Familie

Der Genfer Comiczeichner wechselt öfters vom Bleistift zur Gitarre und wieder zurück. Der internationale Erfolg kam aber durch sein gezeichnetes Alter Ego, die Figur des Titeuf.

Seit über dreissig Jahren ist der seltsame kleine Junge mit der wilden Haarsträhne der Held seines imaginären Pausenhofs. Tausende von Kindern auf der ganzen Welt können sich mit ihm identifizieren.

Titeuf ist unter dem Bleistift von Philippe Chappuis, genannt Zep (nach Led Zeppelin) entstanden. Er wirft einen naiven und neugierigen Blick auf die Gesellschaft mit all ihren tragischen oder auch lustigen Absurditäten. Für ihn ist kein Thema Tabu – egal ob Erwerbslosigkeit, AIDS, Schlägereien, Geflüchtete… oder der Piephahn – auf gut Schweizerdeutsch das Schnäbi –, was sogar bei der französischen Philosophin Elisabeth Badinter oder Brasiliens Ex-Präsident Bolsonaro zu reden gibt.

In wunderschönen Graphic Novels behandelt der 57-jährige Zeichner auch existentielle Fragen beispielsweise zur Ökologie. Mit seiner Band Woohoo, die er mit Sängerin und Lebensgefährtin Valérie Martinez gegründet hat, tritt er zudem als Gitarrenheld auf. Im Interview äussert sich das Multitalent zu seinem Schaffen.

Wie entstand Ihre Leidenschaft für das Zeichnen?

In den frühen 1970er Jahren lasen nur wenige Erwachsene Comics. Meine Eltern gehörten glücklicherweise dazu. Schon bevor ich überhaupt lesen konnte, blätterte ich ihre Comicbücher durch. Wie alle Kinder zeichnete ich immer mal wieder. Irgendwann muss mir eine Zeichnung so gut gelungen sein, dass sie in der Küche aufgehängt wurde. In dem Alter gilt das mehr, als wenn sie im Museum hängen würde! Ich war so stolz, dass ich ständig zu zeichnen begann. Ich liebte es, Geschichten zu erfinden. Schreiben konnte ich noch nicht, aber meine Schwester half mir mit den Sprechblasen. Wenn das Mittagessen sich am Sonntag in die Länge zog, durfte ich in ein kleines Heft kritzeln. Es machte mich glücklich und gab mir ein Gefühl der Sicherheit, dass meine liebsten Menschen meine Zeichnungen toll fanden. Meine Eltern haben mich immer zum Zeichnen ermutigt. Dies obwohl mein Grossvater als Maler ein verträumter Chaot war und die Familie verlassen hatte. Mein Vater war hingegen sehr verantwortungsbewusst und wurde Polizist. Wir hatten das Gefühl, dass uns mit ihm nichts passieren konnte.

«Irgendwann muss mir eine Zeichnung so gut gelungen sein, dass sie in der Küche aufgehängt wurde.»

Heute habe ich mir in meinem Atelier unter dem Dach eine Art Traumzimmer eingerichtet. Mit meinem Zeichentisch, meinen Gitarren, Schallplatten und Büchern sowie Zeichnungen von Menschen, die ich liebe.


Warum haben Sie nicht voll auf Ihre andere Leidenschaft, die Musik, gesetzt?

Die Musik kam erst später, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Am Anfang hatte ich eine geliehene Gitarre. Meine Eltern hielten das für eine vorübergehende Laune. Erst nach zwei Jahren bekam ich mein eigenes Instrument. Im Laufe der Zeit spielte ich in allen möglichen Formationen. Ich liebe das, auch wenn ich grundsätzlich ein Einzelgänger bin. Das Zeichnen entspricht meinem Temperament eher. Meine Lebensgefährtin Valérie Martinez ist aber Musikerin und wir hatten Lust, gemeinsam zu spielen. Unsere erste CD mit Titel «Automatic Songs» ist Ende März erschienen.

Vier Fragen an Zep:


Gehören Sie zu den Menschen, die ihrer Kindheit nachtrauern?

Nein, ich wollte im Gegenteil schnell erwachsen werden. Die Idee für die Figur Titeuf kam mir zufällig, als ich aus dem Fenster meines Ateliers schaute. Ich blickte dabei auf den Pausenhof der Jacques-Dalphin-Schule in Carouge, in der Nähe von Genf. Die dort spielenden Kinder inspirierten mich. Selbst war ich damals kein Kind mehr, aber auch noch nicht Vater meiner drei Kinder, die später geboren wurden. Ich wollte keine geschönten Geschichten oder Märchen erzählen, wie manche Eltern es tun. Der erste Comic rund um Titeuf ist weit entfernt von einer idealisierten Kindheit. Es ist eher eine Art Survival-Guide zur Kindheit. Ich dachte daran, dass Kinder grausam sein können, dass sie einander mobben oder gar erpressen, dass sie bisweilen andere plagen aber auch selbst Opfer sind. Ursprünglich war Titeuf eher für Erwachsene gedacht. Mit der Vorstellung, dass es vielleicht ganz gut ist, sich der Vergangenheit zu stellen, sich ein wenig dafür zu schämen und vor allem darüber zu lachen.


Die Abenteuer von Titeuf sorgen für Diskussionen bis in höchste politische Kreise. Was meinen Sie dazu?

Es gab schon immer Leute, die Titeuf nicht gut fanden. Von aussen sehen die Bände wie Familiencomics aus. Sie sprechen jedoch unerwartete Themen an, etwa Sexualität, Pubertät und gesellschaftliche Fragen aber auch Beeinträchtigung, Erwerbslosigkeit oder Sterben. Sobald man mit Kindern über Sex spricht, entstehen bei Erwachsenen unsägliche Ängste. Dabei hätte ich mir als Kind gewünscht, dass jemand das Thema anspricht. Natürlich hat jede Person ihre Grenzen. Wenn einem aber Leute hassen, die komplett andere Werte vertreten – wenn also der brasilianische Ex-Präsident Bolsonaro den Titeuf-Band «Das grosse Piephahn-Lexikon» verbieten will –, ist das eigentlich nicht schlecht.

In Ihrem Blog für die Zeitung Le Monde verwandelten Sie Titeuf 2015 in einen geflüchteten Jungen, dessen Vater im Bombenhagel umkommt. Warum?

Ich finde, dass Comics auch Fragen stellen, Reflexion anregen und andere Perspektiven aufzeigen dürfen und sollen. Zahlen über Zugewanderte und Geflüchtete schaffen bei den meisten Menschen eine gewisse Distanz. Fiktion kann dagegen unmittelbar berühren. Man identifiziert sich mit der Figur einer Geschichte. Als ich Titeuf für meinen Blog als geflüchtetes Kind zeichnete, berührte dies die Leute emotional, obwohl sie im Prinzip alles schon aus den Nachrichten wussten.


«Ich finde, dass Comics auch Fragen stellen, Reflexion anregen und andere Perspektiven aufzeigen dürfen und sollen.»


Hatten Sie als Kind Umgang mit Menschen, die arm waren oder am Rande der Gesellschaft lebten?

Nicht wirklich, obwohl die Geschichten aus dem Polizeialltag meines Vaters uns doch eine ziemlich brutale Realität aufzeigten. Später wurde ich als junger Zeichner von vielen Organisationen angefragt, deren Themen aufzunehmen. Ich zeichnete Menschen mit Beeinträchtigung, erwerbslose oder ältere Personen sowie Geflüchtete. Am Anfang war es gar nicht so einfach für mich, mein Atelier zu verlassen und auf die Menschen zuzugehen. Ich wollte sie in ihrem Alltag nicht stören. Ihre Geschichten mit dem Mittel der Zeichnung zu erzählen hat mich jedoch ich in ihre Welt eintreten lassen. An dieser Herangehensweise habe ich seither festgehalten. Das Zeichnen gab mir einen Zugang zur Aussenwelt.

Kann eine Zeichnung anderen Menschen helfen?

Ich glaube, dass das Zeichnen dazu beitragen kann, die Welt und andere Menschen zu verstehen. Als Teenager war ich sozusagen der Zeichner der Schule. Als sich eines Tages zwei Schüler aus verschiedenen Klassen prügeln wollten, warteten alle fieberhaft auf die Konfrontation. Ich zeichnete die beiden und die Zeichnung zirkulierte unter den Schülerinnen und Schülern. Die ganze Schule lachte darüber, sogar die beiden Streithälse. Die Prügelei fand am Ende gar nicht statt. Dadurch wurde mir klar, dass Zeichnungen doch eine gewisse Macht haben können.