Soziale & Rechtliche Unterstützung

Seit Januar 2024 leitet die jurassische Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider das Eidgenössische Departement des Innern. Immer wieder äussert sie sich zu sozialen und gesundheitspolitischen Themen. Im Interview spricht sie über die schwierige Lage jener Menschen in der Schweiz, die Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen, auf welche sie eigentlich Anrecht hätten.

Caritas: Sie sind ausgebildete Sozialarbeiterin. Seit wann verspüren Sie den Wunsch, anderen zu helfen?

Elisabeth Baume-Schneider: Das war, glaube ich, schon immer so. Ich hatte das Glück, in einer Bauernfamilie aufzuwachsen, in der man sich umeinander kümmerte. Damals hatten wir Saisonarbeiter auf dem Hof. Diese mussten ihren Lebensunterhalt weit weg von ihren Familien verdienen. Das beschäftigte mich. Ich fand das immer ungerecht. Ich interessierte mich für andere und das bedeutete für mich, zu versuchen, die Dinge gerechter zu gestalten. Das heisst nicht, dass alle genau das Gleiche bekommen sollen, sondern dass jeder Mensch seinen Platz findet.

Ich hatte das Glück, in einer Bauernfamilie aufzuwachsen, in der man sich umeinander kümmerte.

Meine Schwester und ich verbrachten viel Zeit mit den Landarbeitern. Sie haben mir zum Beispiel das Schachspielen beigebracht. Sich die Schwierigkeiten anderer vor Augen führen, heisst auch, ihr Potenzial wahrzunehmen und ihr Fachwissen anzuerkennen. Man sollte nicht sagen «die einen wissen es, die anderen nicht», sondern darüber nachdenken, wie man eine Beziehung aufbauen kann, damit die Begegnungen für alle Seiten fruchtbar sind. 

Das Thema Armut beschäftigt Sie also schon lange. Können Sie Beispiele für Massnahmen nennen, die Sie im Rahmen Ihrer verschiedenen Tätigkeiten dagegen ergriffen haben?

In meinem ersten Beruf als Sozialarbeiterin versuchte ich immer, etwas zusätzliches Geld aufzutreiben, um das Sozialhilfebudget der Begünstigten aufzurunden. Ein jurassischer Parlamentarier sagte mir einmal, diese Menschen würden in einer «goldenen Marginalität» leben. Die Sozialhilfe ist doch alles andere als das! Diese Menschen müssen mit extrem wenig Geld auskommen, was gestützt auf das Existenzminimum gerade noch zum Leben reicht.

Später engagierte ich mich als jurassisches Parlamentsmitglied für die Situation von Erwerbslosen, die keine Geburtszulagen erhielten. In der kantonalen Regierung setzte ich mich danach für Kinder ein, deren schulische Schwierigkeiten auf Ungleichheit zurückzuführen waren. Hier ging es nicht direkt um wirtschaftliche Armut, sondern um Stigmatisierung.

Ich interessierte mich für andere und das bedeutete für mich, zu versuchen, die Dinge gerechter zu gestalten 

Als Leiterin der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne habe ich in der Folge Weiterbildungs- und Forschungsprojekte zu diesem Thema begleitet. Auch in meiner jetzigen Funktion ist mir dieses Anliegen wichtig. Mit Interesse verfolge ich beispielsweise die Vorstösse von Nationalrätin Estelle Revaz, die eine Motion für eine nationale Plattform zur Armutsprävention eingereicht hat.

Macht Sie ein bestimmtes Projekt zur Armutsbekämpfung besonders stolz?

Stolz ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber ein Projekt finde ich einfach sehr schön: Es heisst «Au P’tit Plus», was in etwa «Kleiner Zustupf» bedeutet. Es ist ein solidarischer Lebensmittelladen in den Freibergen, der ganz konkret auf die finanziellen Schwierigkeiten der Menschen eingeht und dabei sehr respektvoll vorgeht. Etwa sechzig Freiwillige arbeiten dort abwechselnd, um täglich sortierte unverkaufte Waren bereitzustellen. Die Kundschaft kann dann für einen symbolischen Preis von 1 Franken das kaufen, was sie braucht.

Im Bereich Sozialhilfe sind natürlich Fachpersonen unerlässlich, aber einen grossen Beitrag leisten auch jene Menschen, die sich in der Nachbarschaft engagieren. Die ganze Freiwilligenarbeit und das Engagement als Bürgerin oder Bürger sind wesentlich und tragen zur Würde jeder und jedes Einzelnen bei.

Wie wichtig Ergänzungsleistungen für Senior*innen in prekärer finanzieller Lage sind, haben Sie während der Kampagne für die 13. AHV-Rente betont. Gerade ältere Menschen trauen sich aber oft nicht, die Leistungen in Anspruch zu nehmen. Was kann man gegen den sogenannten «Nichtbezug» tun?

Dafür sind die Kantone zuständig. Aber man könnte auf Bundesebene daran erinnern, dass hierzu aktiv informiert werden muss, und zwar in einer qualitativ hochwertigen, zugänglichen und nicht stigmatisierenden Form. Im Kanton Jura gab es zeitweise beim Abschluss der Steuererklärung einen Rechner, mit dem man herausfinden konnte, ob man Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Über die Steuern könnte man also das Thema angehen und sichtbar machen.

Zu Bedenken ist, dass es – wie bei anderen Sozialleistungen auch – ein Anrecht auf Ergänzungsleistungen gibt, diese aber auch mit Gegenleistungen verbunden sind. Ich habe viele Briefe von Personen erhalten, die die notwendigen Schritte als übergriffig oder sogar als demütigend empfanden. Es handelt sich aber nun mal um öffentliche Gelder, wie beispielsweise ein Stipendium für ein Studium: Man muss somit Erklärungen abgeben und Belege einreichen, um seinen Antrag zu dokumentieren. Was hingegen verbesserungswürdig ist, ist die Art und Weise, wie kontrolliert wird. Die Abläufe müssen verbessert werden, um dieses Gefühl der Scham bei den Bezügerinnen und Bezügern zu entschärfen.

 

Elisabeth Baume-Schneider, Bundesrätin seit 2023.

Die Schweizer Verfassung besagt, dass jede und jeder das Recht auf ein Leben in Würde hat.

Wie kann man Menschen davon überzeugen, dass es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten?

Wer Sozialhilfe oder Sozialleistungen bezieht, exponiert sich nicht gerne und identifiziert sich kaum mit einer Gruppe. Meines Wissens gibt es auch keine Vereinigung von Sozialhilfebeziehenden, die bezeugen könnte, dass Hilfe auch Anerkennung und Unterstützung bedeutet, um den selbstgewählten Lebensweg gehen zu können.

Die Abläufe müssen verbessert werden, um das Gefühl von Scham bei den Bezügerinnen und Bezügern zu entschärfen.

Armut muss bekämpft werden, damit Menschen in prekären Situationen ihre Autonomie und ihr Selbstwertgefühl wiedererlangen und ihre Zukunftspläne verwirklichen können. Kurz gesagt, sie sollen einfach freie Bürger sein, die ihre Entscheidungen selbst treffen können und gesund sind, um am Arbeitsleben, am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen und für das, was sie sind und für ihren Beitrag zur Gesellschaft anerkannt werden.

Im Juni letzten Jahres hat Ihr Kanton Jura eine Standesinitiative eingereicht, um Ergänzungsleistungen besser zugänglich zu machen. Diverse Motionen gehen in dieselbe Richtung. Eine Studie des Bundes soll die aktuellen Abläufe untersuchen: Wie ist der Stand dieser Studie und was halten Sie vom Vorgehen Ihres Kantons? 

Ich halte die Initiative des Kantons Jura für sehr wichtig, und das sage ich nicht aus Lokalpatriotismus! Was die Studie betrifft: Wenn man die Haltungen und Wahrnehmungen verändern will, braucht man qualitative Daten dazu, wie die Dinge dargestellt werden. Die Studie wird diesen Herbst abgeschlossen. Ich finde es wichtig, «Good Practices» zu untersuchen, positive oder negative Anreize zu eruieren und Hürden zu identifizieren.

Nichtbezug Sozialhilfe: Die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen in Europa schwankt zwischen 40% und 60% (Eurofund 2015). In der Schweiz wird diesem Thema zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt (Lucas, Bonvin, Hümbelin 2021). Bislang liegen noch keine Daten vor, aber die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe wird in Bern auf 26,3% (Humbelin 2019) und die Nichtinanspruchnahme von AHV-Zusatzleistungen in Basel-Stadt auf 29% (Humbelin 2021) geschätzt.
Nichtbezug Ergänzungsleistungen: 15,7% der über 65-Jährigen, die in der Schweiz zu Hause leben. Studie von Gabriel Rainer und Gisela Meier im Auftrag von Pro Senectute.

Letzten Juni hat der Kanton Jura zudem eine erfolgreiche Kampagne durchgeführt, um die Plattform JU-lien.org bekannt zu machen. Diese bietet Informationen über soziale Dienste und Angebote im Kanton und wurde daraufhin rege genutzt. Solche Kampagnen bräuchten aber längerfristige Investitionen, denn mit einer einmaligen Information ist es nicht getan. Das Wichtigste ist aber: Die Kampagne hat gezeigt, dass Menschen sich eher trauen Hilfe in Anspruch zu nehmen, auf die sie Anrecht haben, wenn in der Öffentlichkeit informiert und enttabuisiert wird.

Was halten Sie von der Idee einer schweizweiten Kampagne gegen den Nichtbezug von Sozialleistungen?

Die Schweizer Verfassung besagt, dass jede und jeder das Recht auf ein Leben in Würde hat. In der Präambel heisst es zudem, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Die Sozialhilfe ist Teil dieses sozialen Netzes. Sie ist ein Recht. Eine nationale Informationskampagne gegen den Nichtbezug von Sozialleistungen ist denkbar, doch sollte man sich vor allem überlegen, wie man die Betroffenen informieren kann. Jene Menschen sollten erreicht werden, die misstrauisch gegenüber den Behörden sind oder die keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen wollen. Manche befürchten, dass sich der Staat zu sehr in ihr Leben einmischt. Andere – insbesondere ältere Menschen – haben Angst, dass ihnen z.B. das Häuschen weggenommen wird, das sie durch jahrelange Arbeit erwerben konnten. 

Menschen trauen sich eher Hilfe in Anspruch zu nehmen, auf die sie Anrecht haben, wenn in der Öffentlichkeit informiert und enttabuisiert wird.

Informationen könnten über Peers zirkulieren, zum Beispiel an Orten wie dem erwähnten solidarischen Lebensmittelladen. Als Direktorin der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne begleitete ich die Entwicklung eines Pilotprojekts für einen Sozialhilferechner (jestime.ch). Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) war an diesem Tool interessiert, aber man hätte die unterschiedlichen kantonalen Normen einbauen müssen. Einige Kantone befürchteten, dass der Rechner zu einem starken Anstieg der Anträge auf Sozialhilfe und somit zur Überlastung ihrer Dienste führen würde.

Ich fand das Projekt interessant, denn der Rechner hätte an Orten stehen sollen, an denen sich Menschen in Not aufhalten. Es ist schwierig, alle Kantone für ein solches Projekt zu gewinnen. Aber zumindest könnte als Teilschritt eine Informationskampagne auf der Ebene der Nationalen Plattform gegen Armut koordiniert werden. Natürlich müsste eine Lösung zur Finanzierung gefunden werden, z.B. durch Beteiligung der Kantone und Städte. 

Haben Sie noch andere soziale Projekte, die Ihnen am Herzen liegen?

Es darf keine Bevölkerungsgruppe, wie etwa Menschen mit Migrationshintergrund, diskriminiert werden. Kürzlich wurde eine parlamentarische Initiative der Baselbieter Nationalrätin Samira Marti angenommen. Diese verhindert unter anderem, dass Ausländerinnen und Ausländer die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verlieren, weil sie Sozialhilfe bezogen haben. Wenn Kantone oder Gemeinden solidarischer oder menschlicher handeln wollen, können sie das tun. Es ist eine Frage der politischen Mehrheit oder Minderheit. Es gibt noch viele weitere Projekte zu Gender- oder Gleichstellungsfragen, die mir am Herzen liegen! Man muss den Mut haben, Dinge auszusprechen und sich zu engagieren, wenn man nicht will, dass bestimmte demokratische Werte über Bord geworfen werden.

Man muss den Mut haben, Dinge auszusprechen und sich zu engagieren, wenn man nicht will, dass bestimmte demokratische Werte über Bord geworfen werden.

Zum Schluss: Was halten Sie von Hilfsorganisationen wie Caritas, die gegen prekäre Lebensumstände kämpfen? 

Sie spielen in einem Land wie der Schweiz eine zentrale Rolle. Sie sind in Kontakt und registrieren, wie es den Menschen hierzulande wirklich geht. Im Idealfall würden die offiziellen Kanäle ausreichen und es würde Caritas, das CSP (Centre social protestant) oder andere Vereine nicht in diesem Ausmass brauchen

 Man fragt sich schon, warum in einem reichen und demokratischen Land wie der Schweiz Organisationen wie Caritas und ihre Netzwerke von Fachpersonen und Freiwilligen so dringend benötigt werden. Ihre Rolle ist im Prinzip subsidiär, aber für viele Menschen stehen sie an erster Stelle, um ihnen eine Lebensqualität zu sichern, auf die jede Person Anrecht hat. Deswegen bin ich diesen Partnerorganisationen sehr dankbar und danke auch den Menschen, die sich an sie wenden, für das Vertrauen, das sie ihnen entgegenbringen.

Dieser Artikel erschien im «Caritas.mag». Das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen der Romandie erscheint zweimal jährlich.

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