Wenn Langzeitarbeitslose mit Jobs «matchen»
15. Oktober 2024 | 5 min. Lesezeit
Ein innovatives Projekt und eine neuartige Software: In der Westschweiz unterstützt Caritas Arbeitgebende, neue Wege zu gehen und bekämpft dabei die Langzeitarbeitslosigkeit.
Ein innovatives, von Innosuisse unterstütztes Projekt zeigt mögliche Auswege aus der Langzeitarbeitslosigkeit. Lanciert wurde es von den Caritas-Organisationen in der Westschweiz (Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Waadt, Wallis) für die Periode 2020 bis 2023. Dabei entstand ein Tool namens «Competences.Match»: Es ermöglicht unerwartete Begegnungen zwischen Arbeitgebenden und Menschen, die jahrelang erwerbslos waren. Das «Matching» wird durch eine neue Software unterstützt.
Ein Werkzeug für die Inklusion
«Das Projekt wurde nach wissenschaftlichen Grundsätzen erarbeitet. Dabei haben wir möglichst viele Berufsprofile berücksichtigt, um ein optimales Matching zwischen Jobangeboten und Stellensuchenden zu erreichen. Unser Ansatz fokussiert auf Tätigkeiten: So erfassen wir grundlegende, vorhandene Kompetenzen», erklärt Stéphane Rullac, Professor für soziale Innovation an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit Lausanne (HETSL). Er ist zuständig für das dortige Forschungslabor LaReSS. Zusammen mit seinen Kolleg*innen Nathalie Gey und Pascal Maeder hat er die App entwickelt, die das Matching zwischen Arbeitgebenden und zukünftigen Arbeitnehmenden ermöglicht.
«Der Schwerpunkt liegt weniger auf den klassischen Qualifikationen, sondern eher auf Tätigkeiten, die jemand beherrscht oder die für eine bestimmte Arbeitsstelle verlangt werden.»
Ausgangspunkt für das Forschungsteam war die Tatsache, dass es in der Schweiz trotz niedriger Arbeitslosenquote viele Menschen gibt, die über Jahre erwerbslos sind. Dies betrifft insbesondere marginalisierte Personen. Die regionalen Caritas-Organisationen haben daher den Verein «Cantons zéro chômeur de très longue durée» («Kantone ohne Langzeitarbeitslose») gegründet. In Zusammenarbeit mit zwei Westschweizer Fachhochschulen (Lausanne und ARC) wurde ein Projekt an der Schnittstelle zwischen Sozialarbeit und künstlicher Intelligenz entwickelt.
«Wir wollten zeigen, dass Kompetenzen auf andere Bereiche übertragen werden können. So kann eine Stelle plötzlich als Option erscheinen, die rein anhand von Bewerbung und Lebenslauf nicht unbedingt als passend erachtet würde», erklärt Stéphane Rullac die Methodik.
«Wir wollten zeigen, dass Kompetenzen auf andere Bereiche übertragen werden können.»
«Deswegen liegt der Schwerpunkt weniger auf den klassischen Qualifikationen, sondern eher auf Tätigkeiten, die jemand beherrscht oder die für eine bestimmte Arbeitsstelle verlangt werden. So können Angebot und Nachfrage zusammengebracht werden. Dabei haben wir drei Ziele: Erstens geht es darum, normative Vorstellungen eines ‚guten Profils’ zu überwinden. Wir wollen zweitens jene Fähigkeiten aufwerten, welche die Menschen besitzen. Und drittens möchten wir Arbeitgebende darin unterstützen, ihre Anforderungen für eine bestimmte Stelle klarer zu definieren. Wir verfolgen den Ansatz, dass Wissenschaft nützlich, engagiert und demokratisch sein soll. Das ist es, was soziale Innovation im Kern ausmacht.»
Die dreifache Utopie des Projekts:
Die normativen Grenzen eines guten Profils überschreiten
Wertschätzung dessen, was Menschen können
Arbeitgebenden helfen, ihre Bedürfnisse besser zu erfassen
Das multidisziplinäre Projekt verbindet Sozialarbeit und Informatik. Es orientiert sich an einer allgemeinen Theorie der sozialen Innovation, die Verbindungen zwischen stigmatisierten Menschen und intelligenten Maschinen herstellt. Damit können im besten Fall soziale Konventionen überwunden und holprige Lebensläufe integriert werden.
Ein erfahrungsorientierter Ansatz
«Wir wollten über explizite, dokumentierte Qualifikationen hinaus gehen, die für Personaldienste oder Betreuende offensichtlich sind. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Coiffeuse, die eine Allergie gegen Haarpflegeprodukte oder gegen Haare entwickelt, hat normalerweise keine grossen Umschulungsmöglichkeiten. Für ihren Beruf konnten wir jedoch 22 Tätigkeitskategorien definieren, die ihre verschiedenen Kompetenzen abbilden. Eine Tätigkeit könnte hier sein: Kleine Werkzeuge entsprechend einer bestimmten Technik einsetzen. Diese beherrschte Tätigkeit kann dann Chancen in anderen handwerklichen Bereichen eröffnen, wie z.B. in der Uhrenindustrie.»
«Bei 'Competences.match' bleibt der Mensch im Zentrum. Die Wünsche der Arbeitsuchenden wie auch der Arbeitgebenden bleiben prioritär»
«Diese begleitende Rolle besteht im Prinzip aus Sozialarbeit und Hilfe zur Arbeitsmarktintegration, mit allen bekannten Schwierigkeiten. Wie bei jeder sozialen Begleitung ist es wichtig, die Menschen als Ganzes zu sehen, dass Vertrauen aufgebaut werden kann und dass die Person besser vorankommt, als wenn sie alles alleine machen müsste. Es ist ein eigenständiger Beruf.»
Wichtig für diese Funktion ist auch die Kenntnis der eingesetzten Software. Es müssen Daten eingespeist werden, damit der Algorithmus ein optimales Matching zwischen Stellenangeboten und Erwerbslosen produziert. Hier kommt die wissenschaftliche Dimension des Projekts zum Tragen: Durch digitale Mittel kommt das Erfahrungsprofil der Person mit einem passenden Stellenprofil zusammen.
Durch digitale Mittel kommt das Erfahrungsprofil der Person mit einem passenden Stellenprofil zusammen.
«Ich selbst bin nicht Informatiker, habe aber als wissenschaftlicher Leiter des Projekts mit Spezialist*innen kooperiert. Diese haben Algorithmen im Sinne des Vorhabens programmiert. Gleichwohl bleibt der Mensch im Zentrum. Die App funktioniert wie ein GPS, das beim Fahren unterstützt. Die Begleitperson behält aber die Kontrolle. Wünsche, Einschränkungen und Entscheidungen der Arbeitsuchenden wie auch der Arbeitgebenden bleiben prioritär. Die Software macht lediglich Vorschläge und zeigt die Kompatibilität mit einem entsprechenden Prozentsatz an.»
Verein «Kantone ohne Langzeitarbeitslose»
Der Verein «Kantone ohne Langzeitarbeitslose» (im französischen Original «Cantons zéro chômeur de très longue durée») wurde von den sechs regionalen Caritas-Organisationen der Westschweiz gegründet. Ziel war Chancengleichheit beim Zugang zur Beschäftigung für alle zu schaffen. Der Verein setzt sich dafür ein, dass jede Person, die sich um eine Stelle bewirbt, einen Arbeitsplatz erhält. Besonders wenn sie dies seit mehr als einem oder sogar mehr als zwei Jahren tut. Nach Ansicht des Vereins bietet aktuell nur die Lohnarbeit – solange kein anderes System gefunden wird –den Schutz und die Anerkennung, nach denen jeder Mensch strebt.
Mehr Informationen zum Projekt und zum Verein auf Französisch unter:
Dieser Artikel erschien im «Caritas.mag» – dem Magazin der regionalen Caritas-Organisationen der Romandie. Das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen erscheint zweimal jährlich.
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