Ich bin traurig und müde, doch ich kämpfe weiter
Bilder: Zoe Tempest | 4. Oktober 2022 | 6 min. Lesezeit
Narmin Saleh* floh aus dem Irak, um dem Tod zu entkommen. Doch auch in der Schweiz findet sie keine Ruhe. Die 50-jährige hat nicht mehr so viel Kraft wie früher. Doch sie gibt nicht auf. Sie engagiert sich als Freiwillige für Migrantinnen und hilft bald Menschen mit psychischen Problemen als Pflegerin.
Narmin Saleh steht hinter der Brottheke des Caritas-Markts und begrüsst die Kundinnen und Kunden freundlich. Mit flinken Fingern verpackt die Teilnehmerin des Arbeitsintegrationsprogrammes von Caritas Zentralschweiz ein Baguette und gibt Auskunft über Allergien auf Deutsch. Der soziale Supermarkt führt für Menschen mit kleinem Budget ein Angebot an günstigen, frischen und gesunden Lebensmitteln. Der Caritas-Markt bietet zudem arbeitssuchenden Menschen Arbeitsplätze im Rahmen von Arbeitsintegrationsprogrammen an. An einem Finger trägt Narmin einen Ring in Form eines Auges mit glitzernden Strasssteinchen. «Das Auge symbolisiert Schutz, es schützt mich vor dem ‹bösen Blick›», erklärt sie. Schutz und Sicherheit suchte Narmin schon oft in ihrem Leben. Doch das Leben stellt sie immer wieder auf die Probe. Sie floh vor 15 Jahren aus dem Irak, um dem Tod zu entkommen. Hier in der Schweiz jagt sie ein Schicksalsschlag nach dem anderen.
Bomben und Todesdrohungen
Bevor der Krieg im Irak begann, führte Narmin ein idyllisches Leben – eine grosse Familie, Ehemann, fünf Kinder, ein grosses Haus, ein schönes Auto. «Ich habe alles verloren – Familie, Kinder, Geld. Alles. Der Diktator tötete meine Grossmutter, mein Bruder starb im Krieg, viele Onkel sind im Gefängnis. Wir können nichts dafür, dass wir Schiiten sind.» Als ihr Ehemann Geschäfte mit den Amerikanern machte, zündete eine islamische Gruppe eine Bombe vor ihrer Haustüre. Sie schoben einen Zettel unter der Tür durch und drohten mit dem Tod. Eines nachts kam ihr Mann nicht mehr nach Hause. Er tauchte nie mehr auf. Auch nach langem Suchen nicht. Narmins Leben war nicht mehr sicher.
Ich habe alles verloren – Familie, Kinder, Geld
Sie verkaufte das Haus und versteckte sich mit ihren Kindern in einer anderen Stadt. «Es war gefährlich, wir hatten grosse Angst». Deshalb nahm sie den beschwerlichen Weg nach Europa auf sich. Ihr Plan: Ihre Kinder so schnell wie möglich nachzuholen. Sie träumte von einem sicheren und ruhigen Leben. Auf dem Weg erfuhr sie Gewalt. Als sie in der Schweiz bei ihrer Schwester ankam, dachte Narmin: «Jetzt kommt alles gut. Hier kann ich ein anderes Leben führen mit meinen Kindern. Ich kann arbeiten und sie können eine gute Schule besuchen.» Sie lernte Deutsch, besuchte Bewerbungskurse und arbeitete. «Ich war traurig und vermisste meine Kinder.» Als sie 2008 den Status F erhielt, durfte sie ihre Familie nachholen. Doch ihr Schwiegervater, bei dem die Kinder in der Zwischenzeit Unterschlupf fanden, verbot es. «Im Irak entscheidet der Mann. Er denkt, die Kinder gehören ihm. Es war schwierig für mich, dass ich meinen Kindern nicht helfen konnte.»
Ich wünsche mir ein ruhiges Leben. Ich kämpfe weiter
Sie nimmt ihr Leben immer wieder in die Hand
Nach vielen Jahren lernte Narmin einen neuen Mann kennen. Zu Beginn schien alles friedlich: Sie war Hausfrau, gebar einen Sohn, eine Tochter folgte. Doch als der Sohn vier Jahre alt war, veränderte sich das Leben von Narmin von einem Tag auf den anderen. Das Kind besuchte mit seinem Vater die Badi – und ertrank. Ihre Stimme wird leiser, leicht gebrochen, wenn sie davon erzählt. Die Stimmung zwischen dem Ehepaar änderte sich. Zuletzt landete sie im Frauenhaus wegen häuslicher Gewalt. Doch Narmin liess sich nicht brechen, wieder nahm sie ihr Leben in die Hand und trennte sich.
Jetzt wohnt sie allein mit ihrer 8-jährigen Tochter. Nour* redet daheim Arabisch und in der Schule Deutsch: «Es ist kein Problem für mich, zwischen den Sprachen zu wechseln», sagt Nour auf Dialekt. Manchmal hilft sie ihrer Mama kochen: «Am liebsten esse ich Spaghetti und Fajitas».
Bessere Chancen
Zurück im Caritas-Markt: Am Nachmittag ist Narmin bei der Kasse eingeteilt. Sie schätzt den Kundenkontakt. Die Teilnehmenden der Arbeitsintegrationsprogramme erhalten einen realitätsnahen Arbeitsplatz, wo sie ihren Erfahrungsschatz ausbauen können. Sie werden durch die Kombination von Arbeit und Bildung individuell gefördert. «Die Teilnehmenden erhalten dank dem Programm eine Strukturierung und Sinngebung des Tages. Frau Saleh ist fleissig. Sie profitiert sprachlich und gewinnt Unabhängigkeit hier», so Daniela Bürki, Ressortleiterin des Caritas-Markts Luzern.
Narmin besucht zudem das Beratungsangebot «Coaching für Stellensuchende» bei Caritas Zentralschweiz. Sara Meier, Beraterin Beruflichen Integration, unterstützte sie, Bewerbungsunterlagen zusammenzustellen und sich auf Bewerbungsgespräche vorzubereiten. «Narmin ist sehr selbstständig. Eine starke Macherin und Kämpferin. Sie weiss, dass sie handeln muss, wenn sie etwas erreichen und verändern will. Die ganze Welt kann untergehen, doch sie hat immer noch ein Lächeln parat», sagt Sara. Sie ist beeindruckt von ihrer optimistischen Haltung. «Das kommt ihr auch bei der Stellensuche zugute». In Bagdad arbeitete Narmin als Pflegerin in einem Spital. In der Schweiz absolvierte sie eine Ausbildung zur Pflege-Helferin und startet bald ihr Praktikum in einer psychiatrischen Klinik. «Das Jobcoaching hat mich weitergebracht», berichtet sie.
Ich helfe gerne Menschen
Wenn Narmin von ihrer Arbeit als Pflegerin redet, leuchten ihre Augen. «Ich helfe gerne Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind», erklärt sie. Sie freut sich auf die neue Stelle. Deshalb engagiert sie sich auch bei «HelloWelcome», einem Begegnungsort für Geflüchtete, Migrierte und Einheimische. Gemeinsam mit anderen Frauen organisiert sie einen Frauentreff für Migrantinnen, um sich auszutauschen und sich zu unterstützen. Daneben hilft sie bei weiteren Organisationen für Geflüchtete aus. «Ich habe es selbst schwer gehabt im Leben. Ich verstehe diese Leute», sagt Narmin.
Sie weiss Bescheid, wie es ist, als Migrantin in die Schweiz zu kommen: «In der Schweiz ist es nicht einfach als Ausländerin.» Doch sie habe sich an alles gewöhnt. Sie schätzt an Luzern, dass es eine ruhige und sichere Stadt ist und pflegt regen Kontakt mit ihren Kolleginnen und der Nachbarschaft. «Ich bin oft traurig, müde und habe weniger Kraft und Hoffnung als früher. Dazu kommen gesundheitliche Probleme. Ich lebe meine Routine und schaue täglich, was als Nächstes kommt. Ich wünsche mir einfach ein ruhiges Leben. Ich bemühe mich und kämpfe weiter.» Kraft gibt ihr die Gemeinschaft und ihr Glaube. Sie verbringt gerne Zeit im irakischen Kulturzentrum und macht Picknicks mit Freunden am See. «Gott sagt, dass alles irgendwann gut kommt und dass wir belohnt werden für gute Taten.» Zu ihrem Glauben gehört auch das Tragen eines Kopftuchs: «Viele Leute hier haben Probleme damit. Ich muss mir viele hässliche Kommentare anhören auf der Strasse. Einige denken auch, ich mache es wegen meinem Mann. Das ist nicht so. Ich mache es für mich.»
Ich trage mein Kopftuch nicht für einen Mann, sondern für mich
Am Abend füllt Narmin mit ihren Kolleginnen die Regale auf. Nach Feierabend holt sie Nour von der Betreuung ab, kocht und bringt sie ins Bett. Am nächsten Tag steht sie wieder früh auf und macht weiter. Bis eines Tages alles gut kommt.
*Namen geändert