Schuldenspirale stoppen
15. April 2024 | 5 min. Lesezeit
Überschuldung ist keine Seltenheit mehr. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten nehmen heutzutage viele Menschen in der Schweiz einen oder gar mehrere Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen können. Caritas ist täglich damit konfrontiert und unterstützt Betroffene, aus dieser Situation wieder herauszukommen.
Höhere Krankenkassenprämien, Mieten, Stromrechnungen, Lebensmittelpreise, Krippentarife und Kleidungskosten: Für Einzelpersonen und Familien mit kleinen oder mittleren Einkommen wird das Leben in der Schweiz seit zwei Jahren immer schwieriger. 2023 gab es etwa 10% mehr Betreibungen wegen nicht bezahlter Rechnungen. In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil dieser Fälle gar verdoppelt.
Für Einzelpersonen und Familien mit kleinen oder mittleren Einkommen wird das Leben in der Schweiz seit zwei Jahren immer schwieriger.
«Die Überschuldung nimmt tendenziell zu», erklärt Joëlle Renevey. Die Sozialarbeiterin ist Leiterin der Schuldenberatung sowie Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas Freiburg. Wie bei den anderen regionalen Caritas-Organisationen gehört die Schuldenberatung auch in Freiburg zu den gefragtesten Dienstleistungen.
Alarmierende Zunahme
«Vor 20 Jahren lagen die Schulden pro Person durchschnittlich bei 20’000 bis 30’000 Franken, heute sind wir bei 85’000 Franken angekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass viel mehr Gläubiger involviert sind. Die Verhandlungen mit ihnen sind härter geworden. Früher konnte man zur Abgeltung aller Ansprüche das Bezahlen der Hälfte des Schuldenbetrags aushandeln, was von vielen Gläubigern akzeptierten wurde. Heute ist das immer seltener der Fall», sagt Joëlle Renevey.
Sie ergänzt: «Kreditkarten sind ein Problem, wenn sie für die tägliche Ernährung benötigt werden. Hat man kein Geld mehr zum Einkaufen, so scheint es praktisch, die Kreditkarte zu benutzen, selbst wenn man schon überall Zahlungsvereinbarungen hat, etwa mit der Vermieterin, dem Zahnarzt, der Krankenversicherung oder der Steuerverwaltung. Solange die Person noch nicht als säumige Zahlerin gilt, kann sie über eine Vielzahl von Kreditkarten Beträge aufnehmen, die für uns unverständlich hoch sind.»
+10%
2023 gab es etwa 10% mehr Betreibungen wegen nicht bezahlter Rechnungen.
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Die durchschnittliche Höhe der Schulden hat sich in den letzten 20 Jahren vervierfacht.
8,1%
8,1% der Bevölkerung leben in einem Haushalt mit Zahlungsrückständen.
Laut der Freiburger Schuldenberaterin wird das Konsumkreditgesetz selbst von etablierten Banken nicht systematisch eingehalten. Immer wieder muss sie Kreditvergaben anfechten, wenn sie einen Schuldensanierungsplan mit einer betroffenen Person erarbeitet. «Viele Leute nehmen Kredite auf, um bestehende Schulden abzuzahlen – tun also genau das Falsche. Die Zinssätze sind sehr hoch und sobald eine Ratenzahlung ausbleibt, steigt die Überschuldung rasant.»
Ein Schuldenabbauplan wird über einen Zeitraum von drei Jahren empfohlen. Damit er funktioniert, muss er sich auf das Einkommen der Person stützen und ihr ein Einkommen lassen, das trotz Rückzahlungen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht sowie ausreichend Motivation, ihre Schulden abzuarbeiten. Überschuldung trifft nicht unbedingt Menschen in prekären Lebensumständen, sondern oftmals Personen mit mittleren oder höherem Einkommen. Der Grund liegt dann häufig in Schicksalsschlägen wie einer Scheidung, einem schweren Unfall oder einer Krankheit.
Gesetzliche Verpflichtungen
In der Schweiz leben rund 690’000 Personen in einem Haushalt mit Zahlungsrückständen. Das sind 8,1% der Bevölkerung. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) sind Personen mit niedrigem Einkommen, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig betroffen.
Über die Gefahr der Überschuldung werden Jugendliche in Schulen oder neu in der Schweiz lebende zu wenig informiert, gibt Caroline Henchoz zu bedenken. Die Soziologin und Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne (HETSL) ist auf Geldfragen spezialisiert. Sie führt gerade eine Studie über Verschuldung und Gesundheit in der Schweiz durch, die im Herbst erscheinen soll. «Wir stellen fest, dass Migrantinnen und Migranten sowie junge Menschen nicht genau wissen, was das Leben in der Schweiz wirklich kostet. Irgendwann holt sie die Realität ein, etwa wenn die ersten Mahnungen kommen. Dann dauert es eine Weile, bis sie die eigene Situation angehen können und versuchen, ausstehende Rechnungen zu begleichen. Manchmal ist es dann schon zu spät.»
«Es sind die Schulden beim Staat, die die Gesundheit der Schweizer Haushalte am meisten belasten.»
Steuerschulden zählten 2021 zu den häufigsten Zahlungsrückständen und betrafen 5,8% der Bevölkerung. Weitere 4,8% lebten in einem Haushalt mit mindestens einer Prämie Zahlungsrückstand bei der Krankenkasse. Seltener waren Rückstände bezüglich Miete oder Hypothekarzinsen (2,9% der Bevölkerung).
4,8%
der Bevölkerung lebten in einem Haushalt mit mindestens einer Prämie Zahlungsrückstand bei der Krankenkasse.
5,8%
der Bevölkerung hatten Steuerschulden.
2,9%
der Bevölkerung hatten Rückstände bezüglich Miete oder Hypothekarzinsen.
«Es fällt auf, dass es die Schulden beim Staat sind, die die Gesundheit am meisten belasten. Schuldenmanagement ist zeitaufwendig. Bei schlechter Gesundheit sind viele damit überfordert, was die finanzielle Lage der Betroffenen noch zusätzlich verschlechtern kann», hält Caroline Henchoz fest. Ihre Forschung zeigt, dass überschuldete Personen körperlich und mental weniger gesund sind als die Allgemeinbevölkerung. Was wiederum zu zusätzlichen Kosten führt.
Überschuldete Personen sind körperlich und mental weniger gesund als die Allgemeinbevölkerung.
Chance Schuldenerlass
Seit diesem Frühling gibt es aber einen Hoffnungsschimmer. Neu sollen die laufenden Steuern mitberücksichtigt werden, wenn das Existenzminimum gemäss Betreibungsgesetz berechnet wird, damit nicht sofort neue Schulden entstehen. Der Ständerat hat stillschweigend eine entsprechende Kommissionsmotion angenommen.
Für hoch verschuldete Menschen könnte überdies ein Schuldenerlass möglich werden. «Für diese Personengruppe sind die bestehenden Sanierungsverfahren nicht geeignet, um ihre Schulden abzubauen», weiss Pascal Pfister, Geschäftsleiter Schuldenberatung Schweiz. «Sie sind lebenslang verschuldet. Das ist eine enorme Potenzialverschwendung. Es braucht dringend eine Möglichkeit zum Neuanfang. Der Bundesrat möchte ein streng geregeltes Verfahren mit Schuldenerlass, wie es in Österreich oder Deutschland existiert. Unter bestimmten Bedingungen müssten Gläubiger einen Schuldenschnitt akzeptieren. Während einer Abschöpfungsphase von vier Jahren bezieht die verschuldete Person nur das Existenzminimum, um die Gläubiger zu entschädigen. Nach Ablauf dieser Frist würden die verbleibenden Schulden gestrichen.»
Für hoch verschuldete Menschen könnte ein Schuldenerlass möglich werden.
Céline Vara, Präsidentin Schuldenberatung Schweiz und Mitglied der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, freut sich über diese Entwicklung. «Die Berücksichtigung der Steuern bei der Berechnung des Existenzminimums ist sinnvoll und legt den Grundstein für die Entschuldung. Betroffene können ein menschenwürdiges Leben führen, ihre Schulden begleichen und eine schuldenfreie Existenz aufbauen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Schuldensanierung kommt sowohl der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Gesundheit zugute!»
Schulden haben viele Gesichter. Vier Personen berichten, wie sie in die Schuldenspirale geraten sind.
- Kevin, 28 Jahre, Informatiker
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«Mein erster Kredit war 8000 Fr., um meine Steuern zu bezahlen. Da war ich 22 Jahre alt. Ich verdiente gut, aber ich gab alles aus, vor allem für Online-Spiele. Ich bin heute noch am Abzahlen. Man sollte seine Verwandten um Hilfe bitten, bevor man sich bei Kleinkreditbanken verschuldet, die enorme Zinsen verlangen, wenn man nicht rechtzeitig bezahlen kann. In der Schule sollte der richtige Umgang mit Finanzen gezeigt werden, wie es die Caritas tut.»
- Loris, 33 Jahre, LKW-Fahrer
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«Ich habe die Schule ohne Abschluss verlassen. Ich habe gearbeitet, um zu reisen. Im Laufe der Jahre fand ich immer weniger Arbeit. Ich habe meine fehlende Ausbildung bedauert. Das wenige Geld, das ich verdiente, wollte ich geniessen. Ich liess Steuern und Krankenkasse links liegen. So habe ich mich hoch verschuldet. Ich versprach mir, dass ich – sobald ich eine reguläre Arbeit hätte – meine Schulden zurückzahlen würde. An dem Tag, an dem ich meinen Vertrag unterschrieben habe, habe ich damit begonnen. Heute bin ich dank der Schuldenberatung von Caritas schuldenfrei.»
- Robert, 50 Jahre, Gemeindeangestellter
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«Ich habe mich verschuldet, als wir ein Kind bekamen. Die beiden Personen, die während der Arbeitszeit meiner Frau auf das Kind aufpassen sollten, sagten zehn Tage bevor sie wieder anfing ab. Sie musste ihre Arbeit aufgeben, um sich um das Baby zu kümmern. Das war der Beginn der Hölle. Um meine Familie zu ernähren, musste ich in den Geschäften mit der Kreditkarte zahlen. Die Steuern wurden zu einem schwarzen Loch. Mehr als fünfzehn Jahre später zahle ich immer noch meine Schulden zurück. Wenn alles gut geht, sollte ich in anderthalb Jahren damit fertig sein!»
- Hans, 51 Jahre, kaufmännischer Angestellter
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«Mit 21 Jahren musste ich mich verschulden, um den Hof meiner Eltern übernehmen zu können. Mit 35 Jahren wurde ich geschieden. Ich begann, meine administrativen Pflichten zu vernachlässigen. Ich füllte meine Steuererklärung nicht mehr aus. Es kamen die ersten Betreibungen, dann die ersten Verlustscheine. Ein Unfall zwang mich, den Hof aufzugeben. Ich erhielt eine IV-Rente. Später finanzierte die IV mir in Absprache mit der SUVA eine Umschulung, die ich im Sommer 2023 erfolgreich abschloss, und ich konnte dank der Unterstützung von Caritas Freiburg meine Schulden sanieren.»