Familie

Die Last, mit einem kleinen Einkommen eine Familie ernähren zu müssen, ist nach wie vor gross für Amir Edris*. Dabei auf die Unterstützung von Caritas zählen zu können, bedeutet ihm viel.

Das Holz der Dielen knarzt unter den Füssen, im vierten Stock öffnet sich die Türe. Wer über die Schwelle tritt, steht direkt im Schlafzimmer der kleinen, gepflegten 1,5-Zimmer-Wohnung der Familie Edris. Vater Amir (34, Namen geändert) lächelt, bittet hinein. Hinter ihm sitzt seine Frau Ava* auf dem Bett, viele Sitzgelegenheiten gibt es auf den wenigen Quadratmetern nicht. 

In den Armen hält sie ihr Baby, vor einem Monat ist es zur Welt gekommen. «Ein Mädchen», Amir strahlt, weist mit der Hand auf seine kleine Tochter. Gern würde er Leute einladen, um mit ihnen die Geburt zu feiern. Gastfreundschaft ist eine Tugend, die er aus seiner Heimat Afghanistan kennt. «Allen wird Tee serviert», erzählt er und lacht. Sein Blick schweift über die Enge seiner Behausung, über das Bett und das kleine Sofa, das direkt danebensteht. «Hierhin jemanden einzuladen, ist unmöglich.» 

Seit der Geburt sind die Sorgen grösser

Seit der Geburt seiner Tochter bangt Amir Edris öfter, ob alles gut gehen wird.

Amir geht vier Schritte weiter zur Kochnische. Sie besteht aus einem Schrank, dessen Schubladen nicht mehr schliessbar sind, einem Ofen, drei Herdplatten und einer Abwaschgelegenheit. Ein kleiner, quadratischer Tisch mit drei ungleichen Stühlen steht daneben. Amir zuckt traurig mit den Schultern. «Ich selbst brauche nicht viel zum Leben.»

Aber nach der Geburt seines Kindes bangt er wieder öfters, ob alles gut gehen wird. Letzte Nacht habe es von der Decke getropft. «Ava und ich haben schnell eine Schüssel darunter gestellt», erklärt der 34-Jährige. Er möchte sich nicht beschweren. Zu gross sind die Bedenken, dass er die Einzimmerwohnung verlieren könnte und die Kindheit seiner Tochter noch stärker belastet würde.  

Frühe Verantwortung

Amir Edris’ eigene Kindheit war alles andere als einfach. Als er zehn Jahre alt war, wurde sein Vater von den Taliban abgeführt. «Sechs Jahre verbrachte er hinter Gittern und kam total entkräftet zur Familie zurück.» Amirs Blick trübt sich. Kurzerhand sei er während der Abwesenheit des Vaters in die Rolle des Familienoberhauptes geschlüpft. «Ich pflanzte Gemüse an und verkaufte es auf dem Markt. Bei uns zuhause kam alles auf den Tisch, was ich irgendwie zu einer Mahlzeit verarbeiten konnte.» Aus seiner damaligen Not entwickelte er Fertigkeiten, die ihm heute bei seiner Arbeit als Hilfskoch zugutekommen.

Als er im Jahr 2015 als 25-Jähriger in die Schweiz kam, lebte er zuerst in einem Durchgangszentrum. «Ich wollte alles tun, um mich zu integrieren. Dazu gehörte natürlich die Sprache.» Er spielte Theater und war Teil einer interkulturellen Tanzgruppe.

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Amir erinnert sich gerne an die Zeit als Teilnehmer des interkulturellen Tanzprojekts FIGURES von Mirjam Gurtner in Basel (2020).

Sein Deutsch wurde immer besser, bis er als ehrenamtlicher Dolmetscher im Asylzentrum fungierte. «Ich tat, was ich konnte und wollte niemandem zur Last fallen.» Durch sein Engagement schaffte er es, eine Vollzeitstelle in der Küche einer Klinik zu ergattern. Eine Arbeitsstelle, für die er unregelmässige Dienste und Arbeit an Wochenenden in Kauf nimmt.

«Ich tat, was ich konnte und wollte niemandem zur Last fallen.»

Mittlerweile wird er vom Abwasch in der Küche über die Herstellung von Patisserie bis zur Zubereitung der anspruchsvollen Gerichte eingesetzt. «Die Arbeit gefällt mir sehr gut, ausserdem habe ich viel über die Nahrungszubereitung dazugelernt», führt er aus und nickt bestätigend. An Weiterbildungen zu Nahrungsunverträglichkeiten und Diätküche erweiterte er sein Wissen zusätzlich.

Emotionale Achterbahn

Die Erwerbstätigkeit ermöglichte ihm die Aufenthaltsbewilligung B, mit der er nach Afghanistan reisen und seine Verlobte Ava heiraten konnte. «Diese Reise war eine Achterbahnfahrt. Es war einerseits unglaublich emotional, meine Frau und meine Familie in die Arme schliessen zu können», anderseits sei es hart gewesen, die unhaltbaren Zustände in seinem Heimatland zu erleben. «Ich wollte Ava möglichst schnell die Ausreise ermöglichen. Als Frau im Taliban-Regime konnte sie ihre bisherige Arbeit nicht mehr ausüben und sich auch nicht mehr frei bewegen.» Aber: entsprechende Dokumente kosteten. Und zwar so viel Geld, dass Amir es in seiner Not von Bekannten in der Schweiz auslieh; Summen, die ihn jetzt umso mehr belasten.

«Ich wollte Ava möglichst schnell die Ausreise ermöglichen. Als Frau im Taliban-Regime konnte sie ihre bisherige Arbeit nicht mehr ausüben und sich auch nicht mehr frei bewegen.»

Der Druck, mit seinem niedrigen Gehalt auch noch die Schulden begleichen zu müssen, macht dem versierten Koch bis heute zu schaffen. «Nach meiner Rückkehr suchte ich in meiner Verzweiflung überall nach Unterstützung.» Schliesslich verwies ihn ein Arbeitskollege an die von Caritas Aargau geführte Beratungsstelle. Bei Debora Sacheli, der Standortleiterin des Kirchlichen Regionalen Sozialdienstes (KRSD) Rheinfelden, traf er auf offene Ohren. «Es ist eine unglaubliche Erleichterung, jemanden zu haben, der mich unterstützt», betont Amir. Die KRSD-Mitarbeiterin prüfte innert kurzer Zeit alle seine Fragestellungen und sorgte dafür, dass schnell Unterstützung zu den verschiedenen Themen geleistet werden konnte.

Tiefer Lohn und Schulden

«Meine Frau braucht jetzt gute Nahrung, damit sie wieder zu Kräften kommt.» Amir schüttelt betrübt den Kopf und zeigt auf seinem Handy den Kontostand: Nur noch wenige Franken sind für die restlichen vier Tage übrig, bis sein Lohn ausbezahlt wird. Deutlich unter 4000 Franken netto verdient er; wenig Geld für die Wohnung, die Krankenkasse und sonstige Ausgaben, die für ihr Familienleben anfallen.

Trotzdem schickt er regelmässig einen kleinen Betrag seines Verdienstes nach Afghanistan. Tränen glitzern in Amirs Augen. «Was soll ich tun? Meine Eltern sind beide krank und ich möchte ihnen unbedingt helfen.» Kurz schweift sein Blick zum Bett, wo seine Frau und sein Kind unter einer leichten Decke etwas Schlaf finden. Bei ihm selbst sorgen die Bewältigung des Alltags und seine Schulden nach wie vor für schlaflose Nächte. Sozialhilfe möchte er nicht beantragen, da diese eine Aufenthaltsbewilligung C, eine sogenannte Niederlassungsbewilligung, deutlich verzögern würde – ein Teufelskreis. 

 

Die Freude über die Geburt der Tochter schenkt den jungen Eltern unbeschwerte Momente und lenkt von den finanziellen Sorgen ab, die ihren Alltag bestimmen.

Ein Teufelskreis, in dem das kostenlose Caritas-Angebot immer wieder eine wichtige Funktion übernimmt. Nicht nur, dass Amir seine Probleme mit der Sozialberaterin besprechen kann, sie sucht mit ihm aktiv nach Lösungen. Die Erstausstattung für das Baby wurde durch Stiftungsgesuche erwirkt, ausserdem wurde ein Antrag für die Elternschaftsbeihilfe des Kantons initiiert. Auch dass Ava zweimal in der Woche einen vom Kanton subventionierten Sprachkurs besuchen kann, wurde von Caritas in die Wege geleitet. Amir kümmert sich während der Abwesenheit seiner Frau um sein kleines Mädchen. «Mir ist es wichtig, dass Ava in der Schweiz ankommt und später eine Lehre in ihrem Wunschberuf als Coiffeuse absolvieren kann. Ich möchte, dass sie eine Perspektive hat.» Amir lächelt und senkt dann den Kopf. Eine Perspektive, die er sich selbst immer wieder aufbauen muss.

Zuversicht bleibt

Ein Blick in die Zukunft? Drei Jahre dauert es noch, bis Amir eine C-Bewilligung beantragen kann. «Ich bin unglaublich dankbar, dass ich eine Arbeit gefunden habe, die mir das ermöglicht. Wir brauchen nicht viel Geld, aber ich möchte meine Schulden begleichen können.» Amir seufzt, blickt zu seiner Frau und seinem Kind. «Ein Auto zu haben, bedeutet mir nichts.» Er deutet mit den Händen um sich. «Auch so zu wohnen ist in Ordnung, solange alle gesund sind. Ich habe meiner Frau während der ganzen Geburt die Hand gehalten, nun möchte ich für sie und mein Kind sorgen können.»  

Dieser Artikel erschien im «Caritas regional». Das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen erscheint zweimal jährlich.

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