Gut leben im Alter
15. Oktober 2025 | 9 min. Lesezeit
In der Schweiz haben fast 300’000 ältere Menschen Mühe, finanziell über die Runden zu kommen. Manche leiden auch unter Einsamkeit. Caritas unterstützt sie in der Westschweiz mit passenden Angeboten. Eine Reportage mit Erfahrungsberichten.
Im Schrank der kleinen Küche von Nelly Séchaud sind die Teigwaren so ordentlich aufgereiht, dass sie beinahe ein kleines Kunstwerk bilden. Damit überbrückt die 67-jährige Einwohnerin des neuenburgischen Sainte-Croix finanzielle Engpässe. «Manchmal habe ich am Ende des Monats nur noch 10 Franken übrig, aber ich komme zurecht.» Mit dem Pastavorrat hat sie dann trotzdem genug zu essen, ohne ihr wöchentliches Einkaufsbudget von 50 Franken zu überschreiten. Die AHV-Rente beträgt 1400 Franken, zusätzlich erhält sie Unterstützung für Miete und Krankenkasse. Insgesamt kommt sie auf knapp 2000 Franken Monatseinkommen. Wirklich kritisch wird es, wenn die Rente erst am 5. oder 7. des Monats ausgezahlt wird, während sich die Rechnungen des Vormonats stapeln.
Der Genfer Ständerat Mauro Poggia hat kürzlich eine Motion zum Thema eingereicht: «AHV-Renten. Für Auszahlungsdaten, bei denen die finanziellen Verpflichtungen der AHV-Empfängerinnen und -Empfänger berücksichtigt werden». Sein empörter Kommentar: «Heute dürfen die Ausgleichskassen die Rente bis zum 20. des Folgemonats auszahlen. Ein Beispiel: Für den Monat Oktober erhalten manche Menschen ihre Rente erst am 20. Oktober, aber die Miete und die Krankenkassenprämie für Oktober müssen bis zum 30. September bezahlt werden. Wer eine AHV- oder IV-Rente bezieht, spielt dann für die Ausgleichskasse faktisch die Rolle einer Bank. Das ist stossend, denn unsere Gesellschaft gründet auf verbindlichen Zahlungsterminen, und trotzdem wird die Rente ausbezahlt, als wäre es eine milde Gabe.»
Der Bundesrat und die Mehrheit des Ständerats haben die Motion im September trotz allem versenkt. Der kämpferische Genfer sucht nun eine Möglichkeit, dass ein entsprechender Vorstoss im Nationalrat erneut eingebracht wird.
Steigende Armut bei Seniorinnen und Senioren
Eine repräsentative Befragung im Rahmen des Altersmonitors von Pro Senectute Schweiz zeigt, dass in der Schweiz im Jahr 2022 ein Fünftel der Menschen im Alter über 65 Jahren von Armut betroffen oder gefährdet war. 13.6% sahen sich nicht in der Lage, eine unvorhergesehene Ausgabe über 2000 Franken zu bezahlen. Für 86 Prozent der Rentnerinnen und Rentner schafft das Drei-Säulen-System finanzielle Sicherheit im Alter. Trotzdem leiden fast 300’000 Personen ab 65 Jahren unter Altersarmut oder sind davon bedroht.
Ein Fünftel der Menschen im Alter über 65 Jahren ist in der Schweiz von Armut betroffen oder gefährdet.
13.6% sind nicht in der Lage, eine unvorhergesehene Ausgabe über 2000 Franken zu bezahlen.
Jede vierte Person über 55 leidet unter Einsamkeit.
Das Problem wird sich in den nächsten Jahren aufgrund des demografischen Wandels und der steigenden Lebenshaltungskosten verschärfen. Dies ist unter anderem den Krankenkassenprämien geschuldet, die im Jahr 2026 um durchschnittlich 4.4% ansteigen, wie kürzlich bekanntgegeben wurde.
Kleine Freuden
Wie viele andere Pensionierte lebt Nelly sparsam und wartet jeden Monat darauf, dass die Rente ausgezahlt wird, um ihre Rechnungen pünktlich zu bezahlen. «Ich habe auf dem Bauernhof meines Mannes gearbeitet und hatte eine 80-Prozentstelle an der Kasse beim Coop. Da ich nur wenig verdiente, konnte ich keine Beiträge in die 2. Säule einzahlen.»
Sie ist 61 Jahre alt, als ihr Mann plötzlich mitteilt, dass er sich scheiden lassen will. Ohne finanzielle Rücklagen zieht sie «mit drei Gabeln und zwei Möbelstücken» aus und muss schauen, wie sie zurechtkommt. Sie findet eine Wohnung, in der sie sich wohlfühlt. Umgeben von ihren beiden Katzen und ein paar Freundinnen baut sie sich ein neues Leben auf: «Ich habe gelernt, dass es das grosse Glück nicht gibt. Die kleinen Freuden sind mir lieber.»
Doppelte Strafe
Eine weitere Facette der Armut im Alter ist die Einsamkeit. Ältere Menschen, die in finanzieller Unsicherheit leben, schränken Ausflüge und soziale Aktivitäten ein, was die Isolation noch verstärkt. Es ist schwierig, Freundinnen und Freunde einzuladen, wenn das Abendessen schon für einen selbst kaum reicht. Laut dem Altersmonitor von Pro Senectute Schweiz ist Einsamkeit ein weit verbreitetes Phänomen unter Seniorinnen und Senioren: Jede vierte Person über 55 leidet darunter.
Einsamkeit erhöht das Risiko für Depression, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit.
Einsamkeit kann viele Formen annehmen und unterschiedlich definiert werden. Wenn man alleine ist oder sich alleine fühlt, heisst das nicht unbedingt, dass man auch darunter leidet. Dieser Zustand kann sich sogar angenehm anfühlen. Allerdings erleben von Einsamkeit betroffene Menschen vermehrt soziale Isolation. Caritas versucht dies in der Westschweiz mit verschiedenen Aktivitäten zu durchbrechen, beispielsweise in Neuenburg oder Genf.
Angelehnt an britische Studien beobachtet die Soziologin Oana Ciobanu, Professorin an der Hochschule für soziale Arbeit und Gesundheit Lausanne HETSL, dass die Einsamkeit im Verlauf des Lebens einer U-Kurve folgt: «Einsamkeit zeigt sich stark bei Jugendlichen, weniger bei Erwachsenen und nimmt ab 80 Jahren wieder zu, insbesondere wenn sich das soziale Netzwerk verkleinert.» Als Autorin einer Studie über Einsamkeitsgefühle bei Menschen ab 75 Jahren, die in der Stadt Lausanne leben, hat sie folgende Ursachen dafür eruiert:
- Alleinleben, insbesondere nach dem Tod von Angehörigen
- finanzielle Schwierigkeiten
- schlechter Gesundheitszustand
- Migrationsgeschichte
Laut der Soziologin kann Einsamkeit auch existenziell sein – gekennzeichnet durch einen Sinnverlust und das Fehlen tiefgehender Beziehungen – die selbst dann bestehen bleiben kann, wenn die ältere Person von anderen Menschen umgeben ist. Sie betont: «Aus der Forschung der Niederländerin Jenny de Jong Gierveld wissen wir, dass Einsamkeit das Risiko für Depression, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit erhöht».
Zur Bekämpfung von tatsächlicher oder empfundener Einsamkeit formuliert Oana Ciobanu einige Ansätze:
- Sensibilisierung von Pflegefachpersonen und Sozialarbeitenden sowie Bereitstellen eines Screening-Tools
- Förderung von niederschwelligen Freizeitangeboten, Nachbarschaftskontakten und Vereinsmitgliedschaften
- Angebote zur digitalen Schulung, um Kontakte aufrechtzuerhalten, auch wenn eine aktuelle Studie zeigt, dass ältere Menschen immer besser mit Informatik umgehen können
- Frühintervention, beispielsweise nach dem Tod des Partners oder der Partnerin, und zielgruppengerechte Programme (Menschen mit Migrationsgeschichte, Frauen usw.), mit regelmässiger Evaluation.
Kulinarische Hausbesuche
Die Stadt Neuenburg erwacht gerade, als der 63-jährige Karim seine grosse Tour für die «Toque Rouge» beginnt: Der Name des Mahlzeitendiensts von Caritas Neuenburg bedeutet «Die rote Kochmütze». Karim ist jeden Tag unterwegs: Etwa 30 meist ältere oder gebrechliche Menschen erhalten so eine warme und ausgewogene Mahlzeit. Für viele von ihnen ist Karims Besuch wie ein Sonnenstrahl in einem eher düsteren, einsamen Alltag. Das Lächeln von Françoise, als sie die Tür ihrer Altbauwohnung öffnet, zeugt davon. Die wenigen Worte zwischen den beiden scheinen ihr Herz zu erwärmen.
Die Tour wird zügig durchgeführt, es bleibt aber trotzdem Zeit für nette Gespräche. Karim weiss, wie wichtig sein Besuch für die meisten Menschen ist, denen er ein warmes Essen bringt. Täglich läuft er Dutzende von Treppenstufen hinauf und hinunter, und bleibt dabei fit und gut gelaunt. Vom Seeufer bis zum oberen Teil von Neuenburg kennt Karim alle Abkürzungen zwischen den Strassen und Gassen. Einmal pfeift er, während er in den 4. Stock steigt, ein anderes Mal klopft er fröhlich an eine Tür.
Es kommt aber auch vor, dass die Tür verschlossen bleibt: «Es gibt Menschen, die sich lieber nicht zeigen. Wenn die Box von der letzten Mahlzeit vor der Tür steht, ist das in Ordnung.» In manchen Fällen ist vielleicht aber doch etwas passiert und der Essenslieferant kommt zu spät. Karim ist das zum Glück noch nie passiert. Im Gegenteil. «Ich verdanke ihm viel», sagt Louise. «Eines Tages bin ich gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen.» Sie lag fast fünf Stunden auf dem Küchenboden, bevor Karim mit dem Essen kam und sie wieder auf die Beine stellte. «Seither schaue ich immer kurz vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist», bemerkt Karim. Seine Tour dauert noch bis gegen Mittag. Danach geht es zurück zum Espace des Solidarités, wo ein Mittagessen für nur 6 Franken serviert wird.
Das Essen ist gut, aber ich komme vor allem wegen der herzlichen Atmosphäre und um andere Menschen zu treffen.
Die 93-jährige Gilberte und die 81-jährige Janine treffen sich fast täglich dort, um nicht alleine essen zu müssen. «Das Essen ist gut, aber ich komme vor allem wegen der herzlichen Atmosphäre und um andere Menschen zu treffen», betont Gilberte, während Janine zustimmt: «Zum Glück gibt es diesen Ort, sonst wären wir den ganzen Tag alleine!»
Generationen verbinden
Auch das vor etwa zehn Jahren ins Leben gerufene, generationsübergreifende Freiwilligenprogramm von Caritas Genf wirkt der sozialen Isolation entgegen: Einmal pro Woche erhalten Seniorinnen und Senioren Besuch von Freiwilligen. Heute sind zwischen 15 und 20 solcher Duos aktiv, die jeweils aus einem jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren und einer älteren Person ab 65 Jahren bestehen. Die jungen Freiwilligen werden vor allem über Social-Media-Kampagnen zu Beginn des Studienjahrs gefunden.
Fabrice Blondel, Leiter des Freiwilligenprojekts, legt viel Wert auf eine sorgfältige Auswahl. Er führt ausführliche Vorgespräche und klärt gemeinsame Interessen ab, damit ein erstes Treffen erfolgreich verläuft. Qualität hat Vorrang vor Quantität. Die Tandems treffen sich durchschnittlich zwei Stunden pro Woche zu einfachen, aber wertvollen Aktivitäten: Spaziergänge, Gespräche, gemeinsame Mahlzeiten.
Rawan und Sophie
Zu diesen Freiwilligen gehört auch die junge Rawan, eine ausgebildete Ärztin, die ursprünglich aus Syrien stammet. Sie erzählt: «Auf Facebook habe ich den Bericht einer Freiwilligen bei Caritas Genf gesehen. Ich fand es eine gute Idee, um mich noch besser zu integrieren und habe mich beworben.» Sie wurde ins Programm aufgenommen und konnte eine Schulung besuchen. Dort ging es unter anderem um das Zuhören. «Es war mir wichtig, mich gut vorzubereiten», sagt die 27-Jährige, die in der Folge mit der 69-jährigen, alleinstehenden Sophie bekannt gemacht wurde. «Am Anfang war es etwas schwierig, aber dann haben wir einen Rhythmus gefunden.» Nach und nach entwickelte sich eine gute Beziehung: «Für mich ist das keine Arbeit, sondern eine Freundschaft. Sophie ist wie ein Familienmitglied geworden, vielleicht wie eine Grossmutter.»
Sophie ist wie ein Familienmitglied geworden, vielleicht wie eine Grossmutter.
Die beiden reden viel, unter anderem über ihre jeweilige Kultur: «Sophie stellt mir Fragen über mein Leben, über mein Land. Ich habe ihr ein syrisches Dessert zubereitet, das ihr sehr gut geschmeckt hat. Wir sprechen auch über die Schweizer Kultur. Ich lerne viel.» Dieses Engagement hat sogar ihre beruflichen Pläne beeinflusst: «Ich überlege ernsthaft, mich auf Geriatrie zu spezialisieren.» Vor allem aber steht die emotionale Bindung im Vordergrund: «Sophie ruft mich an, wenn ich krank bin. Auch ich melde mich bei ihr. Es ist eine echte Beziehung.» Erfahrungen, die für Rawan auch im Hinblick auf ihre Integration wichtig sind: «Diese Aktivität ist sehr wichtig, um kulturelle Unterschiede und Bräuche zu verstehen. Ich schaffe mir hier eine neue Familie.»
Dieser Artikel erschien im «Caritas.mag». Das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen der Romandie erscheint zweimal jährlich.
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