Familie

Die Politologin Dr. Meret Lütolf zeigt im Interview mit Caritas auf, wo die Schweiz in der Familienpolitik noch hinterherhinkt – und was sie gut macht. An der Universität Bern forscht die wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Familien- und Vereinbarkeitspolitik, insbesondere der Elternzeit im internationalen Vergleich. 

Christine Gerstner: Inwiefern sind die Ursachen und Auswirkungen von Armut ein Bestandteil Ihrer Forschung?

Dr. Meret Lütolf: Die ökonomische Situation von Familien spielt bei meiner Forschung eine wichtige Rolle. Gerade wenn über Idealvorstellungen bezüglich Vereinbarkeit von Beruf und Familie diskutiert wird und wie Eltern Betreuungsarbeit und Erwerb untereinander aufteilen, rücken oftmals die ökonomischen Möglichkeiten von Familien in den Hintergrund. Ein zentraler Punkt meiner Forschung ist daher beispielsweise, dass die effektive Nutzung von Elternzeit sehr stark durch ökonomische Überlegungen bestimmt wird und je nach Ausgestaltung einer Elternzeit viele Familien sich diese nicht leisten können.

«Viele Eltern können sich die Elternzeit gar nicht leisten»

Wofür verdient die Schweizer Familienpolitik gute Noten?

Nachdem lange Zeit wenig Veränderung sichtbar war, zeigt sich in den letzten Jahren ein allgemeiner Ausbau, sei es beispielsweise bei Ergänzungsleistungen oder Kita-Plätzen.

 

Wo sehen Sie Verbesserungspotential – auch im internationalen Vergleich?

Ich sehe hier zwei wichtige Punkte. Zum einen die Kosten von familienergänzender Kinderbetreuung. Während es nach wie vor einen deutlichen Bedarf an einem Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen gibt, sind die Kosten für die aktuellen Plätze vergleichsweise sehr hoch. In vielen Fällen lohnt sich die familienergänzende Betreuung nicht, da der Kita-Platz mehr kostet, als die zusätzlichen Erwerbsstunden in dieser Zeit generieren könnten. Durch die Subventionierungssysteme der Kantone und Gemeinden betrifft diese Problematik vor allem den Mittelstand.

«In vielen Fällen lohnt sich die familienergänzende Betreuung finanziell nicht»

Der zweite Punkt betrifft hingegen primär die tiefsten ökonomischen Schichten: Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz bezüglich Elternzeit sehr schlecht ab. Mit 14 Wochen für die Mütter und 2 Wochen für die Väter fällt die Dauer für beide Eltern im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich aus. Hinzu kommt der Lohnersatz von 80% des vorangehenden Lohnes, der zwar nicht besonders tief ist, aber durchaus Luft nach oben hat. So kennen einige Länder einen Lohnersatz von 100% und einen fixen Mindestbetrag – unabhängig, ob vor der Geburt einer Erwerbsarbeit nachgegangen wurde.

«Die Differenz von 80 oder 100%igem Lohnersatz mag nach wenig klingen, doch für viele Familien ist sie entscheidend»

Nun gibt es in der Schweiz Möglichkeiten, die Elternzeit zu verlängern, beispielsweise mit unbezahltem Urlaub. Doch diese Möglichkeiten stehen nur finanziell gutgestellten Familien offen. Genauso mag die Differenz von 80 oder 100%igem Lohnersatz nach wenig klingen, doch für viele Familien ist genau diese Differenz entscheidend und führt dazu, dass selbst die 14 respektive 2 Wochen nur teilweise bezogen werden, da sie sich einen vollständigen Bezug finanziell nicht leisten können.

 

Wie können Arbeitgeber und die Wirtschaft im Allgemeinen dazu beitragen, um Familien mit knappem Budget zu unterstützen?

Viele Unternehmen bieten bereits heute die Auszahlung des vollen Lohnes während der Elternzeit an, d.h. dass die Arbeitgebenden die 20% Differenz übernehmen, ebenso wie das Angebot zur Verlängerung der Elternzeit. Ein anderer, sehr wichtiger Punkt betrifft die Arbeitszeit, insbesondere deren Reduktion oder Teilzeitarbeit: Mit der bei uns üblichen 42 Stunden Woche sind gerade Eltern zeitlich stark überlastet. Viele können sich eine Pensenreduktion nicht leisten. Studien konnten verschiedentlich zeigen, dass eine Reduktion der Erwerbsstunden die Effizienz stark steigern kann. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch aus Unternehmenssicht interessant, die Pensen bei gleichbleibenden Löhnen zu reduzieren.

«Dass ein Kita-Platz auch Bildung ist, kommt in der Diskussion hierzulande zu kurz»

 

Welche familienpolitische Massnahme hätte wohl die grösste Hebelwirkung, um die strukturellen Ursachen von Familienarmut anzugehen?

Ein starker Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung, so dass für jedes Kind ein qualitativ hochwertiger und finanziell tragbarer Betreuungsplatz zur Verfügung steht. Dass ein Kita-Platz nicht «nur» Betreuung, sondern auch Bildung ist, kommt in der Diskussion hierzulande eher zu kurz. Unser öffentliches Schulsystem steht allen Kindern unentgeltlich offen. Bildung beginnt aber nicht erst mit dem Schuleintritt und um die Chancengleichheit für alle Kinder unabhängig von ihrem familiären Hintergrund zu erweitern, könnte hier einiges bewirkt werden.

Dieser Artikel erschien im «Caritas regional». Das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen erscheint zweimal jährlich.

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