Die Kunst des guten Sterbens
Die grosse Mehrheit der Menschen in der Schweiz stirbt nicht unerwartet. Meist geht dem Tod eine mehr oder weniger lange Phase der Krankheit voraus. Thomas Feldmann, Leiter Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase von Caritas Zentralschweiz, spricht mit uns über ein selbstbestimmtes Lebensende und die Rolle von Freiwilligen in der Palliative Care*.
Welche Entscheidungen stehen am Lebensende an?
Thomas Feldmann: Es ist für uns und unsere Nächsten hilfreich, wenn wir uns selbst Gedanken darüber machen, was uns in der letzten Lebenszeit wichtig ist und was nicht. Wie und wo möchten wir diese Zeit verbringen? Was bedeutet für uns Lebensqualität und Lebensdauer? Welche medizinischen Interventionen wie künstliche Ernährung oder Reanimation möchten wir noch, und welche nicht? Diese Wünsche können in einer Patient*innenverfügung festgehalten werden.
Was ist den Menschen deiner Erfahrung nach am Lebensende am wichtigsten?
Thomas Feldmann: Ein zentrales Anliegen ist, ohne Schmerzen, Ängste oder andere quälenden Beschwerden sterben zu können. Bis zuletzt in Würde, selbstbestimmt und mit bestmöglicher Lebensqualität leben zu können. Medizinisch-pflegerisch, aber auch geistig
und seelisch gut umsorgt zu sein. Die meisten wünschen sich, daheim zu sterben. Manche möchten Beziehungen klären und die Möglichkeit haben, letzte Dinge noch erledigen und aussprechen zu können. Über den Sinn des Lebens und des Sterbens reden. Manche Sterbende möchten «Spuren» für die Nachwelt hinterlassen, ein Vermächtnis formulieren und wissen, dass es für die Angehörigen gut weitergeht.
«Sich mit der eigenen Sterblichkeit anfreunden. Auch das ist Selbstbestimmung.»
Wie sieht ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Lebensende aus?
Thomas Feldmann: Selbstbestimmung bedeutet nicht einfach, dass wir über unser Lebensende durch einen assistierten Suizid bestimmen. Es kann auch heissen, dem zuzustimmen, was wir in dieser letzten Lebenszeit erleben, eine zunehmende Abhängigkeit anzunehmen und uns der Sorge anderer anzuvertrauen. Ein selbstbestimmtes Lebensende beginnt mitten im Leben, indem wir bewusst mit den Abschieden und der Endlichkeit unseres Lebens leben und uns darin üben, immer wieder loszulassen. «Ars moriendi» – die Kunst des guten Sterbens – heisst, sich mit der eigenen Sterblichkeit anzufreunden. Auch das ist Selbstbestimmung.
Werden diese Gestaltungsmöglichkeiten auch genutzt?
Thomas Feldmann: Ungenutzt bleiben Gestaltungsmöglichkeiten, wenn wir diese nicht kennen. Wir müssen informiert sein und uns darum kümmern. Wer die Tatsache des kommenden Sterbens verdrängt, wird diesen Prozess auch nicht mitgestalten können.
Es haben immer noch nur ca. 22 Prozent der Menschen in der Schweiz eine Patient*innenverfügung. Mit zunehmendem Alter, ab etwa 65, steigt der Anteil auf ca. 47 Prozent. Dazu braucht es den Entschluss, Gedanken über die letzte Lebenszeit zuzulassen, und den Mut, darüber zu sprechen.
Laut eines Berichts des Bundesrats hat in der Schweiz nicht jede Person die gleichen Möglichkeiten, die Wünsche für das eigene Sterben selbstbestimmt umzusetzen. Ist das etwas, was
du in deiner Arbeit auch beobachtest?
Thomas Feldmann: Ja, ich weiss von Gegenden, in denen es keine Spitex gibt, die in der Nacht zur Verfügung steht. Oder es gibt kein Hospiz oder keine Palliativabteilung im Spital und es gibt keine Freiwilligen, die begleiten. Es haben auch nicht alle Menschen die gleichen finanziellen Möglichkeiten und nicht das gleich tragfähige soziale Netz, um am Ort ihrer Wünsche zu sterben. Sind Schwerkranke alleinlebend, haben kein Haus- oder Wohnungseigentum sowie keine Kinder,
steigt die Wahrscheinlichkeit, in einem Alters- oder Pflegeheim zu sterben. Die Rate der Todesfälle, die sich zu Hause ereignen, ist bei sozioökonomisch bessergestellten Personen relativ hoch.
Welche Rolle haben Freiwillige bei der Sterbebegleitung und wie bereitest du sie in deinem Grundkurs darauf vor?
Thomas Feldmann: Ihr Dienst besteht im Wesentlichen darin, Schwerkranke und Sterbende zu Hause und in Institutionen zu begleiten und damit auch Angehörige zu unterstützen. Das Wichtigste, was wir in der Begleitung Sterbender zur Verfügung haben, sind
wir selbst. Dazu gehört: Verfügbarkeit, Menschenliebe, Einfühlungsvermögen, selbst gut verwurzelt zu sein und inneren Halt zu haben. Weiter Herausforderungen sehe ich auch darin, keine Helferabsicht zu haben und Ohnmacht und Schmerz von anderen aushalten zu
können. In den Grundkursen setzen wir uns mit diesen Themen auseinander, vermitteln aber auch Fachwissen im Bereich der Palliative Care, im Umgang mit Abschied und Trauer und vieles mehr.

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Was ist die Motivation der Freiwilligen, diese herausfordernde Aufgabe auf sich zu nehmen?
Thomas Feldmann: Viele sagen, dass durch die Erfahrung mit Endlichkeit der Wert des eigenen Leben bewusster wird und sie nun besser Prioritäten setzen. Es gibt Freiwillige, die ihre Eltern im Sterben begleitet haben, und diese Erfahrung motiviert sie, auch andere Menschen zu begleiten. Einige möchten aus Dankbarkeit für ihr Leben Gutes tun. Andere sprechen davon, dass sie in diesen Begleitungen Sinn erfahren und darin mit den existenziellen Dimensionen des Menschseins in Berührung kommen. Die Dichterin Hilde Domin hat das sehr schön in einem ihrer Gedichte ausgedrückt: «Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selbst. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten.» Ich erlebe, dass es diese Kostbarkeit ist, die die meisten Freiwilligen motiviert.
«Mit diesen Themen verbunden zu sein, gibt meinem Leben Sinn und Tiefe.»
Du leitest seit sechs Jahren die Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase. Wie bist du dazu gekommen, dich so intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, das viele Menschen lieber verdrängen?
Thomas Feldmann: Das Thema Endlichkeit hat mich schon als Kind beschäftigt. Der Tod der Grosseltern, Suizid von Freunden, das Sterben von Tieren. Die Bedeutung des Todes und die Hoffnung auf ein Jenseits dieses Lebens im christlichen Glauben und später in
anderen Religionen. Vergänglichkeit in der bildenden Kunst, der Lyrik und in der Musik. Später dann in der Philosophie, Theologie und Psychologie. Das Sterben und der Tod unserer Mutter, die nach menschlichem Empfinden viel zu früh sterben musste, hat mich sehr
getroffen und geprägt. Und dann meine Arbeit als Therapeut, in der ich seit über 20 Jahren mit Menschen zu tun habe, die Abschied nehmen müssen, von sich selbst, von Lebensmöglichkeiten, von Beziehungen, von Menschen. Wach mit diesen Themen verbunden zu sein, gibt meinem Leben Sinn und Tiefe. Dafür bin ich dankbar.
*Palliative Care umfasst die medizinisch-pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung von schwer kranken Menschen. Ihr Ziel ist nicht Heilung, sondern bestmögliche Lebensqualität bis zum Lebensende.

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