
06.10.2025
Mensch im Mittelpunkt, Gesellschaft im Blick
Wie können Armut, Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem kleinen Kanton konkret gelebt werden?
Regierungsrätin Monika Rüegg Bless spricht im Interview über soziale Teilhabe, den Wert von Nachbarschaft und die Bedeutung starker Partnerschaften.
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Mensch im Mittelpunkt, Gesellschaft im Blick
Interview mit Monika Rüegg Bless, Regierungsrätin und Vorsteherin des Gesundheits- und Sozialdepartements des Kantons Appenzell Innerrhoden über Integration, Teilhabe und gesellschaftliche Verantwortung
Verschuldung, soziale Teilhabe, Integration und langfristige Lösungen gegen Armut, beschäftigen Caritas St. Gallen-Appenzell wie alle Regionalstellen. Denn Armut lässt sich nicht nur mit kurzfristigen Massnahmen überwinden. Deshalb engagieren wir uns auch sozialpolitisch mit starken lokalen Partnern.
Um unterschiedliche Perspektiven besser zu verstehen, haben wir Monika Rüegg Bless, Regierungsrätin und Vorsteherin des Gesundheits- und Sozialdepartements, sowie Rebecca Brülhart, Leiterin Sozialamt, zum Gespräch getroffen. Wie denkt der Kanton Appenzell Innerrhoden über grosse gesellschaftliche Fragen?
Könnten Sie zunächst erzählen, wer Sie sind, was Ihre Arbeit in Appenzell Innerrhoden umfasst und was diese Aufgabe für Sie persönlich bedeutet?
Monika Rüegg Bless:
Ich bin Gesundheits- und Sozialdirektorin. Beide Bereiche finde ich gleichermassen wichtig. Ursprünglich komme ich aus der Pflege und habe viele Jahre in diesem Beruf gearbeitet. 2020 wurde ich an der Urne in die Standeskommission gewählt. Damit war für mich klar: Ich darf die Themen Gesundheit und Soziales mitgestalten und weiterentwickeln.
Im Zentrum steht für mich immer der Mensch. Dies ist von zentraler Bedeutung für den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt. Auch wenn die Themen anspruchsvoll sind, habe ich ein sehr engagiertes Team. Unsere Strukturen sind klein. Deshalb ist bei uns oft eine Person für mehrere Bereiche verantwortlich. Das ist eine Besonderheit unseres Systems.
Rebecca Brülhart:
Ich arbeite seit zehn Jahren beim Kanton Appenzell Innerrhoden und leite seit fünf Jahren das Sozialamt. Dazu gehören die Bereiche Asyl, Sozialhilfe, Alimentenbevorschussung, Behinderung sowie Familien-, Kinder- und Jugendpolitik.
Ich hatte in der Forschung gearbeitet. Dort fehlte mir jedoch der direkte Bezug zum Menschen. Und gerade in einem kleinen Kanton wie Appenzell Innerrhoden sieht man die Wirkung der eigenen Arbeit unmittelbar. Wir begleiten Menschen individuell. Zudem ist der Austausch mit anderen Stellen eng und unkompliziert. Das schätze ich sehr.
Soziale Teilhabe ist ein zentrales Thema für Caritas, insbesondere im Zusammenhang mit Armut, psychischer Gesundheit und Verschuldung. Welche Bedeutung hat soziale Teilhabe in Appenzell Innerrhoden?
Monika Rüegg Bless:
Soziale Teilhabe ist eines der Ziele, das wir in unseren kantonalen Perspektiven festgehalten haben. Diese Perspektiven sind das Pendant zu Regierungsprogrammen in anderen Kantonen und gelten noch bis Ende 2025. Danach werden sie überarbeitet und den neuen Herausforderungen angepasst.
Ein wichtiges Instrument sind die individuellen Prämienverbilligungen. Sie sollen Menschen mit geringen finanziellen Mitteln entlasten. Bei uns im Kanton erfolgt die Zustellung automatisch, basierend auf der Steuererklärung. Damit entfällt die Notwendigkeit, selbst einen Antrag zu stellen. Das hilft, administrative Hürden abzubauen.
So wissen wir auch, wer zu den Anspruchsberechtigten gehört. Oft sind es alleinerziehende Eltern oder Familien mit einem geringen Einkommen.
Migration ist sicher ein zentrales Thema, wenn es um Teilhabe geht. Aber auch Alter, Krankheit oder eine Behinderung können den Zugang zum gesellschaftlichen Leben erschweren. Auch diesen Betroffenen wollen wir Wege zur Integration eröffnen.
Rebecca Brülhart:
Wir organisieren jährlich einen runden Tisch zum Thema Armut. Dort treffen sich Fachstellen und betroffene Personen zum direkten Austausch. So können wir konkret klären, in welche Projekte wir investieren, um die soziale Teilhabe zu fördern
Wir wissen in vielen Fällen, wer Unterstützung braucht. Wie wir diese Menschen am besten erreichen, ist eine andere Frage. Aber sie sind für uns keine Unbekannten. Das ist eine wichtige Voraussetzung für gezielte Unterstützung.
In welchen Lebensbereichen oder Alltagssituationen kann soziale Teilhabe aus Ihrer Sicht zusätzlich gestärkt werden? Wo sehen Sie konkrete Ansätze, um bestimmte Zielgruppen besser zu erreichen?
Monika Rüegg Bless:
Ein wichtiger Bereich ist die frühe Kindheit. Hier möchten wir in Zukunft noch stärker ansetzen und zusätzliche Angebote schaffen. Ein Beispiel ist die Sprachspielgruppe. Diese wird von jungen Müttern aus Appenzell geleitet. In dieser Gruppe treffen sich Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. Die Kinder spielen miteinander und es entsteht eine sehr offene, gelebte Form von Integration.
Ein weiteres Thema, das uns beschäftigt, ist das Schamgefühl. Die Kleinheit des Kantons kann dabei sowohl Vor- als auch Nachteil sein. Einerseits schaut man aufeinander und unterstützt sich. Andererseits entsteht auch sozialer Druck.
Zudem ist die alternde Bevölkerung auch für die Zukunft ein Thema. Immer mehr Menschen leben allein, insbesondere im höheren Alter. Früher war es üblich, zu zweit oder in Familien zu wohnen. Heute fehlt vielen der soziale Austausch. Die Frage ist, wie es uns gelingt, diesen weiterhin zu ermöglichen.
Rebecca Brülhart:
Ein Punkt, der uns auf allen Ebenen beschäftigt, ist die Zugänglichkeit. Sie betrifft die räumliche, sprachliche und digitale Ebene. Das gelingt nicht immer, aber wir arbeiten kontinuierlich daran. Unser Ziel ist, möglichst niemanden zu übersehen. Segregation wäre für uns das Schlimmste.
Appenzell Innerrhoden gilt als attraktiver Ort mit tiefen Steuern oder hoher Lebensqualität. Gleichzeitig leben auch hier Menschen mit sehr knappen finanziellen Mitteln. Wie nimmt der Kanton diese Realität wahr? Wie ist die soziale Lage im Moment?
Monika Rüegg Bless:
Wir haben Angebote, die gewisse Härten abfedern. Ein Beispiel ist die unentgeltliche Lebensmittelabgabe von Especita (Seelsorgeeinheit Appenzell), die jeden Freitag stattfindet. Der Kanton stellt dafür die Räumlichkeiten zur Verfügung.
Bei uns funktionieren familiäre und nachbarschaftliche Unterstützungen noch relativ gut. Wer weiss, dass jemand in einer Notlage ist, hilft oft spontan.
Rebecca Brülhart:
Wir nehmen diese Realität sehr wohl wahr.
Im privaten und halbprivaten Bereich wird vieles abgefedert. Wenn jemand eine staatliche Anlaufstelle braucht, sind wir gut vernetzt. Für eine unerwartete Ausgabe finden wir fast immer eine Lösung, auch wenn sie manchmal etwas unkonventionell ausfällt.
Monika Rüegg Bless:
Man darf an dieser Stelle auch die Rolle der Kirchen erwähnen. Obwohl sie manchmal kritisch wahrgenommen werden, leisten sie einen wichtigen Beitrag.
Sie machen Hausbesuche, engagieren sich in verschiedenen Einrichtungen und pflegen den direkten Kontakt zu Betroffenen. Für unsere Bevölkerung ist das sehr wertvoll.
Nur gemeinsam können wir dafür sorgen, dass die verfügbaren Ressourcen dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Der demografische Wandel stellt auch Appenzell Innerrhoden vor neue Herausforderungen: Die Bevölkerung wird älter, der Fachkräftemangel nimmt zu. Wie bereitet sich der Kanton darauf vor?
Monika Rüegg Bless:
Der Kanton betreibt zwei Pflegeheime, von welchen eines saniert und erweitert wird. Damit wird die benötigte Infrastruktur vorhanden sein. Eine grosse Herausforderung wird es aber sein, genügend Fachpersonen zu finden.
Wir versuchen, möglichst viele junge Menschen für Pflegeberufe zu gewinnen und selbst auszubilden. Gleichzeitig sind wir darauf angewiesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund integriert werden und eine Ausbildung absolvieren können.
Migration ist zentral. Es braucht die Chance auf eine Lehre, auf einen Beruf, der Sinn macht. Aber selbst, wenn wir hohe Zuwanderung hätten und alle länger arbeiten würden, bleiben laut Prognosen Lücken bestehen.
Rebecca Brülhart:
Wir haben gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Es gibt viele Arbeitsplätze, etwa in der Gastronomie, im Tourismus oder in der Industrie. Der Austausch zwischen unterschiedlichen Stellen wird mit Blick auf den Fachkräftemangel in Zukunft wichtiger werden.
Monika Rüegg Bless:
Wir werden kreativ sein müssen. Möglicherweise werden wir gewisse Standards überdenken. Es stellt sich die Frage, ob alles so weitergeführt werden kann und soll wie heute. Flexibilität und visionäres Denken werden entscheidend sein.
Wir haben über Pflege und Serviceberufe gesprochen. Wie sieht es mit hochqualifizierten Migrantinnen aus? Welche Perspektiven gibt es für sie?
Monika Rüegg Bless:
Junge Menschen, die zum Beispiel ein Gymnasium absolvieren, schaffen es oft in kurzer Zeit, die Sprache zu lernen und sich gut zu integrieren.
Gleichzeitig ist die Situation je nach Herkunft und Lebensphase unterschiedlich. Wer in der Pubertät in ein fremdes Land kommt, steht vor grossen Herausforderungen. Ich habe grossen Respekt vor jungen Menschen, die das schaffen.
Mit Sprachkenntnissen und Motivation stehen alle Wege offen. Entscheidend ist, was jemand mitbringt und was sie oder er erreichen möchte. Wenn jemand Ärztin oder Ingenieurin werden will, hängt vieles vom eigenen Willen ab. Ebenso entscheidend sind die Rahmenbedingungen, die wir als Gesellschaft bereitstellen.
Irgendwann trägt aber jede und jeder auch selbst Mitverantwortung für den weiteren Lebensweg.
Wir setzen viel Energie in die Begleitung junger Menschen im Asylbereich. Die Pubertät ist keine einfache Zeit.
Integration ist keine Einbahnstrasse. Wie kann gegenseitiges Verständnis zwischen Einheimischen und Zugezogenen, aber auch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Migrationsbiografien gestärkt werden?
Monika Rüegg Bless:
Sprache ist eine zentrale Voraussetzung. Wer sich verständigen kann, kann auch Beziehungen aufbauen. Bei jungen Menschen sind Vereine wie Sport- oder Musikgruppen wichtige Brücken.
Ein Beispiel aus Appenzell: Viele afghanische Jugendliche spielen Cricket. Es gab bereits Überlegungen, ob ein eigener Cricketclub entstehen könnte. In Städten wie Rorschach und St. Gallen gibt es solche Angebote bereits.
Wichtig ist aber auch die Bereitschaft, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten. Integration kann nur gelingen, wenn beide Seiten offen aufeinander zugehen.
Im Asylzentrum organisieren wir kleine Wanderungen und Ausflüge, damit die Menschen ihre Umgebung kennenlernen. Die Erfahrung zeigt: Essen und Musik sind oft Türöffner. Bei Begegnungsfesten kommen viele Menschen zusammen, die sonst kaum Berührungspunkte hätten.
Rebecca Brülhart:
Wir unterstützen Formate, bei denen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam aktiv werden. Ein Beispiel ist ein Kochprojekt, das auf Initiative des kirchlichen Sozialdienstes. entstanden ist. Dabei kochen Personen aus verschiedenen Herkunftsländern zusammen mit Einheimischen.
Welche Rolle spielen Organisationen wie Caritas, HEKS oder das Rote Kreuz in der Zusammenarbeit mit dem Kanton? In welchen Bereichen ist eine gemeinsame Arbeit besonders hilfreich, um Menschen nachhaltig zu unterstützen?
Monika Rüegg Bless:
Wichtig ist, dass die Angebote des Kantons gut zugänglich sind.. Der Austausch mit der Caritas und anderen NGOs funktioniert sehr gut, es reicht ein Mail und ein Austausch kann stattfinden.
Inhaltlich suchen wir dann gemeinsam nach kreativen Lösungen. Die finanziellen Mittel der öffentlichen Hand sind begrenzt. Wir müssen sorgfältig priorisieren. Ein Beispiel hierfür ist die gezielte Förderung der KulturLegi der Caritas.
Solche Initiativen jedoch müssen von der Standeskommission bewilligt werden. Dafür braucht es gute Argumente. Um diese überzeugend vorzubringen, ist ein regelmässiger Austausch mit Partnerorganisationen besonders wertvoll.
Vielleicht können wir nicht mehrere Projekte gleichzeitig finanzieren. Wenn wir jedoch ein konkretes Vorhaben gemeinsam prüfen und nach zwei oder drei Jahren feststellen, dass es gut genutzt wird, betrachten wir dies als sinnvolle Investition.
Wir sind offen für Zusammenarbeit, denken lösungsorientiert und wollen dort Wirkung erzielen, wo sie den Menschen am sinnvoll.
Rebecca Brülhart:
Für eine gute Zusammenarbeit ist es wichtig, die Schnittstellen klar zu definieren. Es geht darum, Lücken zu erkennen und gemeinsam zu überlegen wer welche davon schliessen kann.
Genauso wichtig ist die Rückmeldung durch die NGOs. Sie sind oft näher an den Menschen und können uns auf Bedürfnisse aufmerksam machen, die sonst vielleicht nicht sichtbar würden. Manche Betroffene scheuen den direkten Weg zur Verwaltung. Umso wertvoller ist es, wenn Organisationen wie Caritas diese Anliegen stellvertretend einbringen.
Wo sehen Sie in den kommenden Jahren die wichtigsten Entwicklungen oder Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Appenzell Innerrhoden? Und wo liegen Chancen?
Monika Rüegg Bless:
Für mich ist klar, dass Integration weiterhin ein zentrales Thema bleiben muss. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Es kommen neue Herausforderungen auf uns zu, zum Beispiel junge Menschen, die mitten in der Pubertät in einem neuen Land ankommen. Wir müssen sie auffangen und ihnen helfen, in eine gesunde Selbstständigkeit zu finden.
Auch die soziale Teilhabe bleibt ein Schlüsselthema. Es geht darum, niemanden zu verlieren und möglichst viele mitzunehmen. Das Wir-Gefühl soll erhalten bleiben.
Ebenfalls wird uns der demografische Wandel fordern. Die Bevölkerung wird älter. Das Gleichgewicht zwischen den Generationen zu wahren, ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Hinzu kommen ökologische Herausforderungen und globale Entwicklungen, die auch bei uns Unsicherheit auslösen. Das Gefühl der Sicherheit, das lange selbstverständlich war, ist nicht mehr gleich stark vorhanden.
Deshalb braucht es einen weiten Blick auf Integration. Gemeint sind damit nicht nur Migrantinnen und Migranten, sondern auch ältere Menschen, Menschen mit Beeinträchtigung oder solche, die anders oder quer denken. Entscheidend ist eine Haltung gegenseitiger Toleranz. Wenn wir bereit sind, einander zuzuhören und Unterschiede anzuerkennen, können wir auch grosse gesellschaftliche Herausforderungen gemeinsam bewältigen. Ich glaube, es gehört zur politischen Kultur der Schweiz, dass man diskutiert, Kompromisse sucht und den Austausch respektvoll führt. Das ist eine Stärke, die wir unbedingt bewahren sollten.