17.10.2024
Ein täglicher Kraftakt: Leben im Schatten der Armut
Frau Meier* lebt seit fünf Jahren mit ihren zwei Kindern in einer kleiner Stadt im Kanton Bern. Ihre Tochter Anja ist acht Jahre alt, ihr Sohn Nik wird bald sieben. Seit seit sechs Jahren zieht sie die Kinder allein gross.
Frau Meier* lebt seit fünf Jahren mit ihren zwei Kindern in einer kleiner Stadt im Kanton Bern. Ihre Tochter Anja ist acht Jahre alt, ihr Sohn Nik wird bald sieben. Seit seit sechs Jahren zieht sie die Kinder allein gross. Beide besuchen eine Tagesschule, was Frau Meier* etwas Freiraum verschafft, dennoch ist ihr Alltag von vielen Herausforderungen geprägt.
Text: Barbara Keller Bilder: Livia Walker
Wohnungsmarkt verschärft prekäre Situation
Die Familie lebt in einer äussert angespannten Lage. Die Mutter leidet bis heute unter den Folgen einer schweren Traumatisierung aus ihrer Kindheit und ist daher nicht berufstätig. Sie und ihre Kinder müssen von den Leistungen der Invalidenversicherung und zusätzlichen Ergänzungsleistungen leben. Trotz dieser Einschränkungen gelingt es ihnen im Alltag, über die Runden zu kommen. Doch die ständig steigenden Lebenshaltungskosten, insbesondere für Lebensmittel, Mieten und Strom, machen das Leben zunehmend schwieriger. Die Heizkosten im Hausblock haben sich mehr als verdreifacht. «Das macht ohnmächtig, die Belastung ist enorm.» Zusätzlich zu den finanziellen Sorgen gibt es Probleme mit der Wohnung. Die Blockwohnung wäre zwar von der Grösse und Lage ideal. Jedoch gab es Unstimmigkeiten mit dem Vermieter. Bereits zwei vorgängige Familien mussten die Wohnung verlassen, und auch Frau Meier* erhielt die Kündigung, die sie erfolgreich auf dem Schlichtungsamt angefochten hat. Sie hat nun drei Jahre Zeit, eine neue Wohnung zu finden, was sich jedoch als schwierig erweist, da Familienwohnungen oft unerschwinglich sind. Für die Kinder wäre es wichtig, im selben Schulkreis zu bleiben, um nicht aus ihrem vertrauten Umfeld gerissen zu werden. Besonders ihr Sohn, der besondere Bedürfnisse hat, leidet unter jeder Veränderung, sei sie auch noch so klein.
Unterstützung für Kind mit besonderen Bedürfnissen
Umso grösser ist die Herausforderung, wenn eines der Kinder besondere Bedürfnisse hat ist. Jede Veränderung stellt für Nik eine Belastung dar. «Schon wenn es heisst, wir gehen jetzt nach draussen und du musst eine Jacke an - ziehen, führt das bei ihm zu Stress.» Frau Meier* hält eine feste Wochenstruktur ein. Während ihrer Thera - piestunden sind die Kinder in der Tagesschule, an - sonsten sind sie fast immer mit ihr unterwegs. Denn sind sie das nicht, stellt sich sofort die Frage nach einer Betreuung, die kostet. Immer zusammen unterwegs zu sein, immer das tun zu müssen, was gerade ansteht, ist die Kinder wie auch die Mutter nicht einfach. Ein familiäres Netzwerk, auf das sie zurückgreifen könnte, hat Frau Meier* nicht. Die Einsamkeit ist dadurch ein ständiger Begleiter, da sie niemanden hat, der sie im Alltag unterstützt oder sich nur schon mit ihr über die Fortschritte ihrer Kinder freut. Eigentlich sollte es doch staatliche Unterstützung für solche Fälle geben, könnte man denken. Dies sei nicht der Fall, entweder gebe es nicht die richtige Unterstüt - zung oder nur mit einem immensen administrativen Aufwand. Für Nik wäre es beispielsweise ideal, wenn eine Kinderbetreuungsperson bei ihm zu Hause auf ihn aufpassen würde, denn dann müsste er neben dem Stress des Zurechtfindens mit einer neuen Person nicht auch noch einen Standortwechsel verarbeiten. Doch genau solche finanzierbaren Angebote fehlten. Ein weiterer Punkt seien auch die riesigen bürokrati - schen Prozesse. Das erhalten einer Diagnose und die Anmeldung der IV waren nur der Anfang.
Noch schlimmer wird der Alltagsstress, wenn Frau Meier* krank wird. «Wenn man dann merkt, man kommt nicht mehr zum Bett heraus, macht das Angst. Was passiert in dem Moment mit den Kindern?» In genau einer solchen Situation befanden sich die drei, als Frau Meier* letztes Jahr mehrfach eine schlim - me Grippe hatte. Sie musste sich irgendwie durch - kämpfen, denn mit solchen Situationen wird man als Alleinerziehende komplett allein gelassen. Auch eine dringend benötigte Operation musste sie mehrfach verschieben, da eine zweiwöchige Kinderbetreuung nicht zu organisieren sei. Dennoch gibt es einige Ange - bote, die helfen, den Alltag zu vereinfachen.
Entlastung im Alltag
Nik und Anja bekommen kaum mit, dass ihre kleine Familie von Armut betroffen ist. Frau Meier* hat ihre Strategien, damit umzugehen. Auch sie wuchs bereits in armen Verhältnissen auf und weiss deshalb, wo man Unterstützung bekommen kann. Ihr ist es wichtig, dass sie auch im belasteten Alltag ihren Kindern schöne Erlebnisse ermöglichen kann. Die Familie nutzt die KulturLegi für Aktivitäten wie einen Besuch in der Badi oder im Zoo, für den Coiffeurbesuch oder die Velobörse. Mit der KulturLegi können auch Menschen mit wenig Geld am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – dank Vergünstigungen. Gibt es diese Möglichkeit nicht, ist ein knappes Budget ein Grund für den Ausschluss aus der Gesellschaft. Dies kann, besonders für Kinder, sehr schwierig sein. Frau Meier* nennt das Beispiel einer Tanz- und Theaterschule an der Schule von Anja, die keine Vergünstigung anbieten kann. Dadurch war es Anja nicht möglich, diese ausserschulische Aktivität zu besuchen. «Ich möchte meinen Kindern alles ermöglichen.» Frau Meier* erzählt, dass sie sich das Skifahren selbst beigebracht hat und gleichzeitig auch ihren Kindern. Sie seien zu dritt allein im Stemmbogen einen kleinen Hügel heruntergefahren.
Eine weitere Entlastung bringt das Angebot der «mit mir»-Patenschaften der Caritas. Anja und Nik wurde vor zwei Jahren eine freiwillige Patin vermittelt, die mit ihnen Ausflüge unternimmt oder auf sie aufpasst. Beide Kinder haben zu ihrem Geburtstag je einen eigenen Ausflug mit der Patin machen können. Solche Zeit, in der sie die Aufmerksamkeit einer erwachsenen Person für sich allein haben, ist sehr wertvoll. Denn ihr Entwicklungsunterschied wird je länger je grösser. Die Kinder verbringen auch deshalb gern mal ihre Zeit alleine mit ihrer Patin, Frau Leiser*. Natürlich gibt es auch Ausflüge zu dritt.
Frau Meier* plant, in zwei Jahren eine kleinere Ausbildung zu machen, um ihre beruflichen Perspektiven zu verbessern. Sie wünscht sich mehr niederschwellige Betreuungsmöglichkeiten, die an ihr Familiensetting angepasst sind, insbesondere für ihren Sohn.
Trotz aller Herausforderungen schafft es Frau Meier*, ihren Kindern eine liebevolle und strukturierte Umgebung zu bieten. Ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen sind bewundernswert, und sie hofft auf bessere Zeiten, in denen sie und ihre Kinder mehr Unterstützung und Begegnungen auf Augenhöhe erfahren.
Die Patin
Frau Leiser* war 40 Jahre lang Kindergärtnerin. Ihr selbst blieb der Kinderwunsch verwehrt. So entschied sie sich nach ihrer Pensionierung vor gut zwei Jahren, sich als «mit mir»-Patin zu engagieren. In ihrem Beruf hat sie gesehen, dass es nicht allen Kindern gut geht. Manche kommen aus einer schwierigen Familienstruktur oder spüren, dass bei den Eltern das Geld knapp ist. Diese Kinder und Familien wollte sie unterstützen, um so etwas zurückgeben zu können. Als sie sich entschlossen hatte, sich zu engagieren, ging die Vermittlung rasch voran, da die Distanz zwischen den Wohnorten der Patin und jener der Familie zu bewältigen ist. Zuerst war der Plan, eigentlich nur ein Kind zu übernehmen, damit sie sich wirklich auch Zeit für dieses nehmen konnte. Der Wunsch der Mutter war aber, dass sie beide übernehmen würde, und sie entschied sich, diesem Wunsch nachzukommen.
In den zwei Jahren konnte Frau Leiser* einen guten Kontakt zu den Kindern aufbauen. Die gemeinsame Zeit gibt ihr viel zurück. «Wenn ich sehe, wie fröhlich die Kinder sind, steckt das sofort an.» Die Treffen sind unterschiedlich, manchmal geht sie zu den Kindern nach Hause, manchmal gibt es gemeinsame Ausflüge, auch mal mit der Mutter oder nur mit einem Kind einzeln. So kann man auch mal einem Kind die volle Aufmerksamkeit schenken. So merkte Frau Leiser* schnell, dass Anja kunstaffin ist. Deshalb gingen sie gemeinsam an eine Ausstellung im Sensorium. Kurz darauf folgte dann derselbe Ausflug mit Nik, da dieser auch erleben wollte, wovon die grosse Schwester begeistert erzählte. Die Kinder liebten auch die Natur, erzählt die Patin. So hätten sie gemeinsam Naturmandalas gemacht, was bei vielen Kindern am Anfang schwer sei, bei Anja und Nik aber sofort sehr gut funktionierte.
Frau Leiser* hat Freude an ihrem Engagement als Patin. Sie würde allen Interessierten mitgeben, offen gegenüber der spezifischen Situation der Familien und Kindern zu sein. Wenn man keine spezifischen Erwartungen hat, ist es einfacher, eine Beziehung so aufzubauen, dass es in den Alltag und die Vorstellungen der Familien passt. Sie selbst wünscht sich, den Kontakt zu ihren Patenkindern weiterzuführen und sie auf einem Stück ihres Lebensweges zu begleiten.
* Name geändert
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