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Die Teuerung in der Schweiz bewegt sich heute auf einem erträglichen Niveau - für viele Menschen ist aber auch dies zu viel.

«Jetzt kann ich mir vieles gar nicht mehr leisten»

Die Teuerung in der Schweiz bewegt sich heute auf einem erträglichen Niveau - für viele Menschen ist aber auch dies zu viel. Am meisten betroffen sind Menschen mit tieferen Einkommen. Erika Scheidegger musste schon vorher sehr genau auf ihre Ausgaben achten, seit den steigenden Lebensunterhaltskosten muss die Rentnerin auf noch mehr verzichten.

Erika Scheidegger betritt den Caritas-Markt in Bern, sofort begrüsst sie das anwesende Verkaufspersonal herzlich. Sie kennt alle im Laden und umgekehrt. Das Verhältnis scheint schon fast familiär zu sein. Der soziale Supermarkt führt für Menschen mit kleinem Budget ein Angebot an günstigen, frischen und auch gesunden Lebensmitteln. Die Rentnerin schätzt den Caritas-Markt sehr und meint, ohne gehe es nicht mehr. «Ich kann für 30 CHF einkaufen gehen und habe den Wagen halb voll, in anderen Läden habe ich dafür drei Sachen», erzählt sie. Frau Scheidegger kann es sich heute nicht mehr leisten, in gewöhnlichen Lebensmittelläden einkaufen zu gehen. Die Preise waren schon vor der Teuerung kaum bezahlbar.

Jeden Monat durchkommen

Erika Scheidegger ist 65 Jahre alt und lebt neben ihrer Rente von Ergänzungsleistungen. «Es ist nicht viel, aber ich komme durch». Oft werde sie auch gefragt, wie sie das denn mache, dass ihr schmales Budget zum Leben reiche. Die Antwort ist einfach: Man muss auf vieles verzichten. «Gerade Ferien liegen schlichtweg nicht drin». Sie lebt mit etwa 2'500 CHF im Monat, nach Abzug der Fixkosten bleiben ungefähr noch 400 CHF. Erika Scheidegger sorgt akribisch jeden Monat dafür, dass sie alles bezahlen kann, denn Schulden kommen für sie nicht in Frage. Sie will auf keinen Fall in der Schuldenspirale enden. «Wenn man nicht viel hat, muss man halt rechnen, damit man durchkommt». Gerade die Teuerung macht dieses monatliche Durchkommen zu einer noch grösseren Herausforderung.

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Bis auf den Katzenstreu habe der Caritas-Markt eigentlich alles.

Noch weniger als vorher

«Es ist eine Katastrophe, jetzt kann ich mir vieles gar nicht mehr leisten. » Die Teuerung trifft jene am härtesten, welche vorher schon wenig hatten. Erika Scheidegger spürt die Preissteigerungen vor allem bei den Lebensmitteln. Käse, Fleisch, Margarine, Getränke – das sei alles enorm teurer geworden. Schlichte Dinge wie Brot sei in «normalen Einkaufsläden» unterdessen über 3 CHF und somit für sie unerschwinglich.

Auto fährt sie nicht – «zum Glück, bei diesen Preisen». Die Strom- und Heizabrechnungen stehen noch aus – für Frau Scheidegger bereits jetzt Grund zur Sorge. Sie verbraucht so wenig Strom wie möglich, liest nur noch mit gedimmtem Licht. Auch geheizt wird nur noch auf der untersten Stufe. In einer düsteren, kalten Wohnung zu sitzen, keine schöne Vorstellung. Für Erika Scheidegger eine Notwendigkeit, von welcher sich die aufgeweckte Rentnerin nicht unterkriegen lässt – im Gegenteil.

«Ich helfe gerne anderen»

«Ich habe ja meine Katze, die spendet mir Trost». Erika Scheidegger besitzt bereits die fünfte Katze in ihrem Leben. Die Katzen haben bei ihr Zuflucht gefunden. Denn: Jede ihrer Katze kam ursprünglich aus schlechten Verhältnissen und bringt eine Vorgeschichte mit. «Sie sollen bei mir die Chance auf ein besseres Leben bekommen». Die treuen Begleiterinnen bedeuten Erika Scheidegger sehr viel.

Doch sie hat nicht nur ein Herz für Katzen – sondern auch für Menschen. So kauft sie selbst für zwei ältere Frauen, welche über 90 Jahre alt sind, ein. Erika Scheidegger hilft ihnen im Alltag, begleitet sie und spielt mit ihnen Brettspiele. «Ich helfe gerne anderen, ich habe Freude daran. » Auch bei ihrem Besuch im Caritas-Markt bringt sie gleich selbst noch gut erhaltene Kleidungsstücke für den Secondhandladen carla mit. Denn jemand könne das sicherlich noch gebrauchen. Sie selber kaufe kaum neue Kleider, vieles bekomme sie geschenkt. So habe ihr Bruder ihr vor Kurzem wunderschöne lila Schuhe gebracht. Sie habe sich riesig gefreut, er kenne halt «ihre Farbe und Grösse».

Wir stehen im Caritas-Markt unterdessen an der Kasse. Die 50 Rappen, welche Frau Scheidegger als Rückgeld bekommt, gibt sie zurück. Auch hier – sie möchte etwas zurückgeben für die «günstige und gute Ware». Sie spare ja viel Geld mit dem Laden, das wolle sie auch wertschätzen.

«Mein Laden»

Gemüse, Brot, Joghurt, Pouletknusperli, Katzenfutter, Zahnbürste, Zahnpasta, Duschmittel, Haushaltspapier, WC-Papier – all dies kauft Erika Scheidegger während ihren durchschnittlich zweimal wöchentlichen Besuchen im Caritas-Markt ein. Den Alkohol und das Katzenstreu holt sie im Denner, alles andere gebe es hier.

«Wenn ich einkaufen gehe, habe ich genau im Kopf was ich brauche, damit ich das Geld für nichts Anderes ausgebe». Ab und zu darf es dennoch eine Nascherei sein, verrät sie. Bei diesen Süssigkeiten wollten die Leute auch oft wissen, woher sie kommen. Oft verrate sie dieses Geheimnis dann nicht, es sei schliesslich «ihr Laden», fügt sie mit einem Schmunzeln hinzu

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Zur Person

Erika Scheidegger hat vier Brüder, ist aber als einziges Kind im eigenen Elternhaus aufgewachsen. Ihre Brüder waren Verdingkinder. Während ihres Berufslebens arbeitete Erika Scheidegger zuerst im Verkauf, später in privaten Haushalten. Sie erledigte alle anfallenden Arbeiten wie kochen, putzen oder waschen. Sie habe es immer gut gehabt mit den Arbeitgebenden. Sie war während 32 Jahren mit ihrem Mann verheiratet, der im Jahr 2013 verstorben ist. Gemeinsam mit ihm erledigte sie Abwartsarbeiten – für die gemeinsame Tour hiess es um drei Uhr morgens aufstehen, und dies fast 20 Jahre lang. Erika Scheidegger ist ein Naturmensch, geht gerne wandern oder spazieren – auch bei Regen und Schnee. Sie ist ländlich aufgewachsen und ist bis heute mit dem Land verbunden. Die Natur gibt ihr Kraft für den Alltag.